Neuverfilmung von Arthur Schnitzlers berühmter Novelle, die Stanley Kubrick zu „Eyes Wide Shut“ inspirierte.
FAST FACTS:
• Mutiges, innovatives, unabhängiges Arthouse-Kino aus Deutschland
• Mix aus erotischem Neo-Noir-Thriller und Gesellschaftssatire
• Zweiter Kinofilm von Florian Frerichs, der 2018 mit „Das letzte Mahl“ auf sich aufmerksam machte
• Mit Nikolai Kinski in der Hauptrolle, unterstützt u.a. von Bruno Eyron und Detlev Buck
• Eröffnungsfilm des Internationalen Filmfests Oldenburg 2024
CREDITS:
Land/Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 109 Minuten; Drehbuch: Florian Frerichs; Regie: Florian Frerichs; Besetzung: Nikolai Kinski, Laurine Price, Detlev Buck, Nora Islei, Bruno Eyron, Sharon Kovacs; Verleih: Apollo-Film; Start: 16. Januar 2024
REVIEW:
Bereits sein erster Kurzfilm „Alex“ aus dem Jahr 2013 war eine Hommage an Stanley Kubrick, inszeniert als Kinotrailer für eine Art Fan-Fiction-Reboot von „A Clockwork Orange“, eine dreiminütige Gewaltorgie mit Nikolai Kinski und Werner Daehn in den Hauptrollen. Florian Frerichs scheut keinen Vergleich mit Hollywood-Vorbildern und wagt sich mit seinem zweiten Kinofilm erneut an einen Stoff, mit dem Kubrick Geschichte schrieb, eine literarische Vorlage, die schon den Meisterregisseur zu seinem spektakulären Höllenritt „Eyes Wide Shut“ mit Tom Cruise und Nicole Kidman inspirierte. Auch der Autodidakt Frerichs, der hier für Drehbuch, Regie und Schnitt verantwortlich zeichnet, verlegt Arthur Schnitzlers komplexe „Traumnovelle“ aus dem Wien des Fin de Siècle in die Gegenwart, passt seine Interpretation und die Maßstäbe für Moral seiner Zeit an. Trotz des geringen Budgets – das Projekt wurde ohne Fördermittel von Frerichs Warnut Entertainment produziert – beweist gleich die stimmungsvolle Eingangssequenz, dass sich das Ergebnis sehen lassen kann: Der Reigen beginnt mit einer ruhigen Kamerafahrt über Berlin, der Blick folgt dem Straßennetz im dämmrigen Licht, den Lebensadern der Metropole im tanzbaren Walzertakt, vorgegeben von Giuseppe Verdis Oper „Ein Maskenball“, die den roten Faden bildet, der mit Schnitzlers Text verknüpft wird – beides Werke, die sich im Spannungsfeld verborgener Sehnsüchte und gesellschaftlicher Erwartungen bewegen, dem die Hauptfigur nicht entkommen kann, dieser „gute Doktor“, dessen unterdrückte Ängste, Schuldgefühle und sexuelle Begierden in einer schicksalhaften Nacht an die Oberfläche drängen. Aber das ist alles nur geträumt, dem Unterbewusstsein des Protagonisten entsprungen, was nicht zuletzt dank „Eyes Wide Shut“ kein Geheimnis ist.
Nikolai Kinski übernimmt in diesem Fall die Rolle des zugeknöpften Allgemeinmediziners Jakob, die Amerikanerin Laurine Price ist seine Frau Amelia, die selbst in Jogginghosen verführerisch aussieht. Das Paar hat ein nicht-binäres Kind namens Henny, eine Altbauwohnung in Charlottenburg und einen Porsche-Leihwagen, und wie es sich für moderne Großstädter gehört, geht man am Wochenende nicht nur in die Oper, sondern auch mal in einen Lack- und Leder-Technoclub. Ansonsten hält sich das Drehbuch eng an die Vorlage: Verstört von dem Geständnis seiner Gattin, die sich durchaus Sex mit anderen vorstellen könnte, treibt Jakob die Eifersucht durch dunkle Gassen. Er wird ans Sterbebett eines Patienten gerufen, wo ihm dessen erwachsene Tochter ihre Liebe gesteht, er fühlt sich von jungen Männern (mit Migrationshintergrund) bedroht, wird von einer möglicherweise minderjährigen Edelprostituierten (Nora Islei) in ein Luxusbordell gelockt und vor drohenden Gefahren gerettet. In der Kleinen Nachtrevue trifft er auf seinen alten Freund, den backenbärtigen Klavierspieler Nick Nightingale (Bruno Eyron), der ihm das magische Passwort („Verdi“) für einen verheißungsvollen Maskenball verrät. Nach einem Intermezzo von Detlev Buck als Besitzer eines Fetischladens, der seinen Sohn im Hinterzimmer von einem Domina-Duo auspeitschen lässt, findet sich Jakob schließlich in einer Nazi-Villa am Wannsee wieder. Statt erotischer Abenteuer erlebt er eine peinliche Demütigung, als ihn die Zeremonienmeisterin im Hellraiser-Look (ein Cameo-Auftritt der niederländischen Sängerin Sharon Kovacs) auffordert, vor der versammelten, in Nonnenkostümen und Sträflingskleidung gehüllten Gästeschar seine Maske abzulegen.
Jakobs traumwandlerische Reise wird von Visionen unterbrochen, in denen er als Opernsänger von seinem jeweiligen Gesangspartner angehustet wird. An einer Stelle wird er von einem Patienten mit Blut bespuckt, in einem anderen Moment durchbricht er die vierte Wand zum Publikum und sinniert mit mahnendem Blick über das Thema Verdrängung. Der Höhepunkt ist eine komplett KI-generierte Animationssequenz, die wiederum den metaphernreichen Albtraum zeigt, den Amelia ihrem Mann bei seiner Rückkehr ans Boxspring-Ehebett schildert: ein Bilderreigen aus Kunstwerken und -stilen verschiedener Epochen, in dem sich die nackten Körper der Darsteller herumtreiben, eine Sequenz, die letztlich vor allem dafür steht, was aus künstlerischer Sicht an Künstlicher Intelligenz falsch ist. Das Drehbuch reiht Anspielungen auf den Zeitgeist und Zitate aus Literatur und Wissenschaft von Nietzsche über Edgar Allen Poe bis zu Freud aneinander. Alles zusammenzuhalten ist die Aufgabe von Nikolai Kinski, der in fast jeder Einstellung im Mittelpunkt steht. Er verkörpert den verunsicherten Doktor mit einer Mischung aus freudiger Erregung und innerer Empörung, errötet, als ihm zwei attraktive Clubbesucherinnen die Funktionsweise einer Vibrator-App demonstrieren, bietet bei jeder Gelegenheit medizinische Hilfe an, fürchtet sich aber insgeheim vor Krankheit und Tod, ist stets um Haltung bemüht, möchte auf- und abgeklärt statt kleingeistig sein, hält aber offenbar ganz Berlin für einen Sündenpfuhl, in dem es alle nur auf ihn abgesehen haben, einschließlich seiner hochhackigen Sprechstundenhilfe. Was ihm noch mehr zu denken gibt, ist die Nazi-Symbolik, die sich in sein Unterbewusstsein geschlichen hat und an dem Ort zum Vorschein kommt, an dem er der Öffentlichkeit sein wahres Gesicht zeigen soll.
Ernst und Satire lassen sich nicht immer eindeutig erkennen, hin und wieder wirkt der Film selbst etwas verklemmt. Das mag daran liegen, dass in englischer Sprache gedreht wurde und die Synchronisierung die gekünstelten Dialoge und Monologe noch schwerfälliger klingen lässt, als es vielleicht beabsichtigt war. Ohnehin geht es Frerichs weniger um das psychologische Porträt des Einzelnen als um das große gesellschaftliche Ganze, um den Blick von oben wie in der Anfangsszene, um die Erschaffung einer Welt, deren Hauptstadt die Bühne für ein grenzenloses burlesques Theater mit babylonischer und berghainscher Exzentrik bietet. Dieses fängt der Filmemacher mit Hilfe seines Kameramanns Konstantin Fryer, der auch bei seinem Kinodebüt „Das letzte Mahl“ das Licht setzte, und der Musik von Tuomas Kantelinen oft so brillant ein, dass das gelungene atmosphärische Stimmungsbild fast wie eine Maske wirkt, hinter der sich der ironische Charakter dieser „Traumnovelle“ versteckt.
Corinna Götz