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REVIEW KINO: „The Village Next to Paradise“

Authentisches, berührendes Weltkino über den Alltag einer Patchworkfamilie in einem somalischen Dorf.

CREDITS:
O-Titel: The Village Next to Paradise; Land/Jahr: Deutschland/Frankreich/Österreich/ Somalia 2024; Laufzeit: 133 Minuten; Drehbuch: Mo Harawe; Regie: Mo Harawe; Besetzung: Ahmed Ali Farah, Anab Ahmed Ibrahim, Ahmed Mohamud Saleban; Verleih: eksystent Filmverleih; Start: 30. Januar 2025

REVIEW:
Vom Paradies ist der Schauplatz von Mo Harawes Spielfilmdebüt weiter entfernt, als es der Titel behauptet: ein Dorf an der Küste Somalias, dem Land am Horn von Afrika, das seit Jahrzehnten von Bürgerkrieg, Klima- und humanitären Katastrophen beherrscht wird, wie man es aus den Nachrichten kennt und wie es gleich die ersten Bilder des Films in Erinnerung rufen. Ein Ausschnitt aus der News-Sendung eines britischen TV-Senders vermeldet einen weiteren Drohneneinsatz im Kampf der USA gegen die islamistische Terrormiliz, bei dem wieder einmal Zivilisten ums Leben gekommen sind. Die nächste Einstellung zeigt den Protagonisten, wie er in staubiger Hitze an einem Straßenrand ein Grab für eines der Opfer aushebt: „The Village Next to Paradise“ erzählt davon, wie die chronische, tödliche Bedrohung den Alltag verändert, wie Menschen unter diesen Umständen (über)leben, zeigt das, was in der Fernsehberichterstattung für gewöhnlich untergeht.

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„The Village Next to Paradise“ von Mo Harawe (Credit: Doris Erben/Freibeuterfilm)

Mamargade (Ahmed Ali Farah), der Totengräber, Gelegenheitsarbeiter und alleinerziehende Vater, profitiert auf makabre Weise von den Angriffen – wäre da nicht die Konkurrenz der großen Baufirmen, die sein Geschäft immer weniger lukrativ macht. „Das ist das Ende der Welt, wenn man seine Angehörigen von Baggern beerdigen lässt“, sagt er einmal. In seinem bescheidenen Ein-Zimmer-Haus wohnen außerdem sein kleiner Sohn Cigaal (Ahmed Muhammad Salesian) und seine frisch geschiedene Schwester Araweelo (Ana Ahmed Ibrahim), die davon träumt, eine Schneiderei zu eröffnen, woran sie wiederum das örtliche Gesetz hindern will – Kredit gibt es nur für verheiratete Paare. Außerdem verlangt ihr Bruder, dass sie ihre Ersparnisse in die Ausbildung ihres Neffen investiert, als die Dorfschule geschlossen wird und Cigaal in einem städtischen Internat untergebracht werden könnte.

Die Alltags- und Gefühlswelt der Figuren ist von der gleichen unüberwindbar scheinenden Schwere geprägt, die schon Harawes auf zahlreichen Festivals gefeierte Kurzfilme „Life On The Horn“ und „Will My Parents Come To See Me“ auszeichnete. Darin beschäftigte sich der Filmemacher sowohl mit den Folgen der Giftmüllkatastrophe an der somalischen Küste als auch mit dem Justizsystem seines Heimatlandes, beides Themen, die er auch hier anklingen lässt. In „The Village Next to Paradise“ folgt er weniger einer Geschichte als seinen Charakteren, die unter den herrschenden Bedingungen nur mühsam vorankommen. Der nicht enden wollende Sandsturm ist der geringste Widerstand, gegen den sie ankämpfen. Sobald Mamargade hinter dem Steuer eines LKW oder eines anderen (geliehenen) Fahrzeugs sitzt, wird er an- und aufgehalten. Es geht in kleinen Schritten voran und noch häufiger einen Schritt zurück. In seinem dramatischsten Moment fängt der Film die Stimmung in einem Krankenhaus kurz nach einer Drohnenattacke ein, Vater und Sohn sitzen wartend vor der Notaufnahme auf einer Bank, Cigaal mit einem Pappkarton über dem Kopf, den er wie einen Schutzhelm trägt. Im Hintergrund hört man Sirenengeheul, aufgebrachte Stimmen, Schreie. Mamargade rät seinem Sohn, die Hände schützend vor die Augen zu halten, nicht hinzusehen, bevor er selbst aus dem Bild verschwindet, um Angehörigen der Opfer seine Hilfe anzubieten, während die Kamera auf Cigaal gerichtet bleibt und die Geräuschkulisse bedrohlich anschwillt.

Der Film hat eine bestechende visuelle Ausdruckskraft, obwohl der Großteil der Crew wie auch die Laiendarsteller über wenig Erfahrung verfügen. Die präzisen Bildkompositionen haben eine karge Schönheit, betonen die leuchtenden Farben von Kleidung und Details, die sich von der staubtrockenen Landschaft abheben. Die Figuren stehen selten im Mittelpunkt, meist sind sie an den Rand von Großaufnahmen gedrängt oder angeschnitten. Musik kommt nur dann zum Einsatz, wenn irgendwo im Radio ein Song zu hören ist, unterstreicht die Authentizität und den Realismus. Die Erzählweise ist elliptisch, nur das Nötigste wird gesagt, und sehr oft klingen einzelne Sätze umso stärker nach. Eine Frau, deren Tochter getötet wurde, spricht von der Sinnlosigkeit, Kinder zu haben – „es gibt keine Zukunft, sie sterben früh.“ An anderen Stellen haben die knappen Dialoge eine geradezu surreale Komik, die vor allem die rührende Vater-Sohn-Beziehung beschreibt: „Ich verstehe es nicht, aber es ist schön geworden“, sagt Mamargade mit ausdruckslosem Ernst, als Cigaal ihm eines seiner selbstgemalten Kunstwerke präsentiert, in diesem Fall die äußerst schwungvoll bekritzelte Tafel in seinem Klassenzimmer. In einer Sequenz, in der die beiden gemeinsam am Strand liegen, weil sich Cigaal weigert, allein zu Hause zu bleiben, wenn Mamargade arbeitet, wirkt der Alltag in Paradise schließlich trotz allem so, wie es der Name des Dorfs verspricht.

Das Paradies ist kein Ort, es ist ein Gefühl in Mo Harawes Film. Es ist der Zusammenhalt der Menschen in einem Land, dessen dysfunktionale Regierung weder Schutz noch langfristige Perspektiven bietet, es ist das Clansystem, und es sind Familien, die durch die Umstände zueinanderfinden. Alle sind aufeinander angewiesen, voneinander abhängig, von denen, die ein Auto besitzen, denen, die einem Geld schulden, denen, die Arbeit verteilen. Nur die Gemeinschaft macht das Überleben möglich, nur die Menschlichkeit, die die Inszenierung zwischen den Zeilen offenbart. In der zweiten Hälfte erfährt man, dass Mamargade nicht aus Eigennutz fragwürdige Entscheidungen trifft, es ist seine übergroße Hilfsbereitschaft, die ihm ebenso zum Verhängnis wird wie die Überzeugung, nur mit Geld etwas verändern zu können. Seine geduldige Schwester Araweelo hingegen findet mit stoischer Unerschrockenheit einen raffinierten Weg, um ihre Träume zu verwirklichen und die Hoffnung zu bewahren, obwohl alles gegen sie spricht. Es gibt kein Richtig und Falsch, kein Gut und Böse in Harawes eindrucksvollem Debüt, es gibt nur das Bild, das man sich aus der Distanz macht, und das der Wahrheit aus nächster Nähe wohlmöglich nicht ganz gerecht wird. „Wir alle leben im Paradies“, heißt es an einer Stelle, was im ersten Moment sarkastisch, im Nachhinein zutiefst menschlich klingt.

Corinna Götz