In diesem Jahr hat die bekannte Kuratorin und Journalistin Jenni Zylka die Serien-Sektion bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck übernommen. Mit viel Lust und Kenntnisreichtum spricht sie im Interview über ihre erste Auswahl und wird im Kino zur Serienerzählerin.
Wie kam es zu Ihrem neuen Posten als Kuratorin der Serien-Sektion bei den Nordischen Filmtagen? Viele kennen Sie kuratorisch mehr aus dem Filmbereich bei der Berlinale, wobei Sie dort jetzt auch bei Series Days dabei sind.
Jenni Zylka: Als Kuratorin arbeitete ich seit den 2000ern bei der Berlinale im Filmbereich. Und als Fan und Journalistin interessieren mich Serien immer schon, vor allem, seit sich die horizontal erzählten Serien ausbreiteten. Für den Deutschlandfunk mache ich auch schon lange Serien-Kritiken. Zudem beschäftige ich mich im Drehbuchbereich mit Serien. Die Verbindung zu Lübeck kam über den Künstlerischen Leiter Thomas Hailer, den ich von der Berlinale kenne. Er wusste, dass mich das Thema interessiert und fragte nach – und ich habe sofort Ja gesagt, weil es viel Spaß bringt, ein eigenes Programm zu machen. Ich liebe Festivalarbeit sowieso.
Wie haben Sie die Serien-Sektion von Ihrer Vorgängerin Wendy Mitchell vorgefunden?
Jenni Zylka: Serien auf Festivals zu zeigen, ist etwas Besonderes. Sie bekommen nochmal eine andere Kraft, wenn man sie auf der Leinwand zeigt und ihnen so die größtmögliche Form bietet. Für das Programm habe ich deswegen auch sieben Serien ausgesucht, die im Kino großartig aussehen. Ich wollte keine kleine One-Camera-Sitcom, bei der es keinen visuellen Mehrwert gibt. Mit Wendy habe ich natürlich Kontakt gehabt und eine Übergabe gemacht. In den vergangenen Jahren hat sie tolle Entscheidungen bei ihrer Auswahl getroffen. Sie hat eine Menge in die Wege geleitet und mir netterweise auch ihre Kontakte überlassen. Zum Teil kenne ich die Verantwortlichen aus den baltischen und nordischen Ländern auch über meine Arbeit bei der Berlinale. Aber teilweise sind es andere Studios. Die kuratorische ist der journalistischen Arbeit eigentlich nicht unähnlich: Bestenfalls verknallt man sich in etwas, was man sieht. Dann analysiert man, warum man sich verknallt hat, überlegt, was daran so gut ist. Als Journalistin versuche ich, einem Publikum das zu beschreiben und schmackhaft zu machen, als Kuratorin zeige ich die liebgewonnenen Serien und rede natürlich darüber.
Können Sie beispielhaft anhand Ihrer ausgewählten Serienprojekte die Vorzüge und Qualitäten der nordischen und baltischen Länder beschreiben?
Jenni Zylka: Ein Beispiel wäre das klassische Genre der Nordic Noirs, der nordischen Thriller-Serien – im Norden wird ja anscheinend besonders viel gemordet… Das hat als Genre über die Zeit eine hohe Qualität entwickelt, weil die Macher:innen dort gelernt haben, horizontale Dramaturgien hervorragend zu erzählen. Ich habe zum Beispiel die Serie „Isolated“ ausgewählt, die auf der Insel Utö vor der Küste Finnlands spielt. Das Format arbeitet mit Thriller-Elementen, ist aber gleichzeitig eine Robinsonade. Eine Insel wird isoliert, die Bevölkerung ist allein gelassen und hat keinen Kontakt mehr zur Außenwelt. Das ist Fantasy und hat eine hohe visuelle Qualität. Auch psychologisch ist es spannend. Die Serie ist sehr düster und man rätselt die ganze Zeit mit.
Haben Sie weitere charakteristische Beispiele?
Jenni Zylka: Das schwedische Format „Painkiller“ von Gabriela Pichler fand ich ebenso großartig. Es geht um die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter und darum, wie sich Fluchterfahrungen in Körper einschreiben. Aber das Ganze ist als eigenwillige Dramedy mit persönlicher Handschrift erzählt. Wir haben zwei klassischen Nordic Noirs mit wahnsinnig guten Schauspielerinnen im Programm. Und „Soviet Jeans“ aus Lettland ist absolut sehenswert. Die Serie spielt Ende der 1970er-Jahre zu Sowjet-Zeiten. Ein angeblicher Regime-Kritiker kommt in eine psychiatrische Anstalt und fängt an, dort Fake-Jeans herzustellen – das Ganze als schnelle, pulsierende, historisch lehrreiche Hommage an die Freiheit und den Rock’n’Roll.
„Soviet Jeans“ ist einer der prominenteren Titel in Ihrer Auswahl. Die Serie gewann im Frühjahr zwei Preise bei Series Mania in Lille. Was ist der absolute Geheimtipp, den man wahrscheinlich noch gar nicht auf der Rechnung hat?
Jenni Zylka: Das kommt auf Ihre Stimmung an. „Black Sands II“ ist auf jeden Fall die düsterste Serie, was das Vertrauen in die Welt angeht. Aber das ist eine schwierige Frage. „Secrets“ ist zum Beispiel auch eine sehr gute Erzählung über eine Geschwisterbeziehung, die ja häufig die längste Beziehung ist, die man überhaupt im Leben führt. Daran kann man als Publikum gut anknüpfen. „For Evy & Always“ ist eine der schlausten und reizendsten RomComs, die ich je gesehen habe, obwohl es dort ebenfalls um Traumata und Familiendrama geht. Sie kommt aus Norwegen.
Sie haben für die Sektion viel gesichtet. Sind Ihnen bestimmte wiederkehrende Motive und Ästhetiken als Trends aufgefallen?
Jenni Zylka: Es hat sich vor allem hinter der Kamera viel getan, weil es endlich eine größere Sensibilität für das Thema Diversität gibt. Wer erzählt wessen Geschichten. Das erlebt man auch in den Serien. Das würde ich aber nicht Trend, sondern vernünftiges Verhalten nennen, wenn die Menschen genau die Geschichten erzählen, mit denen sie sich auch gut auskennen.
Sie selbst werden bei den Nordischen Filmtagen als Serien-Erzählerin auftreten, was eine sehr gute Idee ist, weil man viele Serien bei einem Festival nicht komplett zeigen kann. Wie kam es dazu?
Jenni Zylka: Das Schauen von Serien auf Festivals ähnelt ja häufig einem Gefühl wie bei einem Coitus interruptus: Das kann doch jetzt nicht schon vorbei sein! Ich kenne das selbst als Teil des Publikums und bekomme es als Feedback vom Publikum gespiegelt. In Lübeck hörte ich auch von Zuschauerinnen und Zuschauern, die gerne gewusst hätten, wie es bei dieser oder jener Serie weitergeht. So entstand die Idee: Wenn man zum Beispiel die ersten und die letzten beiden Episoden einer Serie zeigt, und ich ohnehin vor Ort bin, kann ich die Lücke erzählerisch fülle. So lerne ich auch ein bisschen das Publikum kennen. Meine Dazwischen-Erzählung ist aber ganz kurz, vielleicht fünf Minuten. Ich werden das jetzt einfach mal ausprobieren.
Das Interview führte Michael Müller