Die amerikanische Filmemacherin Ava DuVernay zählt zu den kämpferischen Stimmen des Filmbetriebs von häufig. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, vertritt auch unbequeme Positionen. Auf dem 21. Marrakech International Film Festival sprach sie im Interview über die Reise ihres Films „Origin“ und wie sie die Zukunft des Bewegtbilds einschätzt.
Vor eineinhalb Jahren haben Sie „Origin“ als Weltpremiere im Wettbewerb von Venedig gezeigt. Seither hat der Film eine turbulente Reise hinter sich gebracht, nicht zuletzt Ihre verbale Auseinandersetzung mit Ihrem US-Verleih Neon. Wie sehen Sie die vergangenen 18 Monate im Rückblick, das Negative wie das Positive?
Ava DuVernay: Mir geht es nur um eines: Ich will, dass die Menschen meinen Film sehen. Bei einem Film wie „Origin“ drehen sich die Räder etwas langsamer, die internationale Auswertung steht erst noch bevor. Ich sehe nur das Positive: Die Menschen, die meinen Film gesehen haben, reagieren wunderbar, ich führe großartige Gespräche mit ihnen. Manche sehen die Dinge danach aus einer neuen Perspektive, manche hatten eine Offenbarung, andere stimmen nicht mit dem Gezeigten überein. Es gibt Debatten, Gespräche, Dialog. Also all das, worum es mir ging. Es war mir sehr wichtig, dass „Origin“ in den USA im letzten Jahr in die Kinos kam. Ich wollte, dass über den Film gesprochen wird in einer Zeit, in der sich die Menschen überlegen mussten, wer das Land künftig anführen soll. Wo man ihn dann sehen konnte, haben sich meine Erwartungen erfüllt. Und jetzt hoffe ich, dass der Film seinen Weg in der Welt macht.
Lassen Sie uns doch noch etwas mehr über den Verleih, den Vertrieb Ihrer Filme reden. Sie haben auch schon für Netflix gearbeitet, dem Vernehmen nach eine sehr gute Erfahrung für Sie. Hat das Streaming verändert, wie Filme und Serien gesehen und rezipiert werden?
Ava DuVernay: Ich habe mich schon sehr früh für Netflix stark gemacht. Dafür wurde ich heftig kritisiert, was ich nie verstanden habe. Am Ende des Tages ist es mir als Filmemacherin mit einem klaren Standpunkt egal, wie und wo meine Arbeiten gesehen werden. Ich bin da nicht so wählerisch. Natürlich liebe ich das Kino, natürlich will ich, dass man meine Filme auf der großen Leinwand sieht, in der bestmöglichen Umgebung für einen Film. Ich habe hart am richtigen Sound gefeilt, dass das Bild richtig abgestimmt ist, dass die Farben stimmen, jedes noch so kleine Detail, um den Film so gut zu machen, wie ich kann. Aber am Ende kommt es mir auf die Geschichte an. Sie ist wichtig. Als weiblicher Filmemacher, als Schwarzer Filmemacher, als ein weiblicher Schwarzer Filmemacher ist es für mich entscheidend, dass meine Arbeit gesehen wird. Meine Stimme soll gehört werden. Ob Du nun im Flugzeug sitzt und meinen Film auf dem winzigen Bildschirm auf der Rückseite des Sitzes siehst oder in einem IMAX-Kino, ist mir in dieser Hinsicht einerlei: Hauptsache, man sieht meine Filme.
Oder eben Streaming…
Ava DuVernay: Wenn es Netflix nicht gäbe, würden meine Arbeiten sicherlich nicht auf einen Schlag in 190 Ländern zu sehen sein. Ich bin dankbar, dass meine Arbeiten bei Netflix laufen. Ich fühle mich glücklich. Ich will, dass man sie sieht. Netflix hat dafür gesorgt. Wenn ich nach Brasilien komme, sprechen mich die Menschen auf meine Miniserie „When They See Us“ über die Central Park 5 an, sind empört über die behördliche Willkür, die himmelschreiende Ungerechtigkeit, die diesen jungen Männern angetan wurde. Wenn ich nach Indien komme, treffe ich Menschen, die „13“ gesehen haben. Das ist besonders. In Ländern, wo meine Kinofilme keinen Verleih haben, habe ich kein Problem mit Piraterie oder Raubkopien. Dort verdienen sie ohnehin kein Geld, niemand verliert etwas. Wenn schon kein Geld gemacht wird, wird der Film wenigstens gesehen.
Wenn ich noch einmal einhaken darf: Haben Sie den Eindruck, dass Filme heute anders gesehen und wahrgenommen werden, dass sie eine andere Rolle im öffentlichen Diskurs haben, seitdem die Streamingplattformen existieren mit ihrer überwältigenden Masse an Produkt? In einer Konferenz in San Sebastián rief Produzentin Christine Vachon in diesem Jahr: „Our business model isn’t fucking sustainable“. Was macht das mit Ihnen?
Ava DuVernay: Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Ich hege eine große Leidenschaft für das Kino! Ich verfolge mit sinkendem Herzen mit, was mit dem unabhängigen Kino besonders in den USA passiert. Ich fühle mich missverstanden, wenn man mir vorwirft, ich würde das Kino mit einem Schulterzucken abhaken, weil ich mich darüber freue, dass man sich meine Filme auf Flugzeugreisen ansieht. Natürlich liegt mir das Kino am Herzen. Natürlich ist es mir wichtig. Aber es lässt sich doch nicht von der Hand weisen, dass die Menschen sich gerne Filme auf den Streamingplattformen ansehen. Was soll ich tun? Soll ich sie anschreien und mit dem Fuß auf den Boden stampfen? Ist es nicht besser, auf die Menschen zu hören? Für sie mache ich meine Filme schließlich. Die Leute haben gesprochen. Manchmal wollen sie ins Kino gehen, manchmal wollen sie sich einen Film zuhause ansehen. Dafür kann es viele gute Gründe geben. Ich verstehe das. Wo ich aufgewachsen bin, ein Schwarzes Viertel, gab es kein Kino. Kino-Segregation. Wenn ich einen Film im Kino sehen wollte, musste ich mich eine Stunde in den Bus setzen. Finde ich mich damit ab und schaue ich mir einfach keine Filme an? Ich hätte alles dafür gegeben, wenn es in meiner Jugend Netflix gegeben hätte und ich mir Filme aus der ganzen Welt hätte ansehen können. Einfach so. Das ist doch toll.
Alles richtig. Aber das beantwortet nicht die Frage danach, was man machen kann, das Kino als gemeinschaftliche Erfahrung wieder aufzuwerten.
Ava DuVernay: Ja, es stimmt, unser Geschäftsmodell lässt sich in der aktuellen Form nicht aufrechterhalten und man muss neue Lösungsansätze finden. Was kann man tun? Man muss sich Gedanken darüber machen, wie man Menschen wieder dazu animiert, ins Kino zu gehen, wie man dem Kino neue Kraft gibt, eine neue Sinnhaftigkeit. Man muss für das Besondere werben. Was macht einen Kinobesuch so besonders, was ist sein Alleinstellungsmerkmal? Man muss den Menschen einen Grund geben, wieder öfters ins Kino zu gehen. Die Erfahrung als solche ist einmalig. Ich bin sofort dabei. Bis dahin halte ich es nicht für zielführend, zu schmollen und die Wolken anzubrüllen.
Muss man nicht den Filmen als solchen wieder eine größere Bedeutung beimessen? Sie wieder als Filme, vielleicht sogar Kunstwerke sehen und nicht einfach nur als Content? Denken Sie, dass es möglich wäre, diese Begeisterung für die Kunstform wieder neu zu entfachen?
Ava DuVernay: Ich betreibe ein kleines Kino in Los Angeles, ein sehr kleines Kino, auf unserem Campus. 50 Sitze, DCP-konform, Dolby. Tolle Sache. Der Eintritt ist frei. Alles, was wir zeigen, ist umsonst. Iranisches Kino, koreanische Meisterwerke, alte Schwarzweißfilme aus Afrika, etwas Brandneues, das Lin-Manuel Miranda empfohlen hat. Die Gemeinde ist eingeladen. Das wird hervorragend angenommen. Danach bleiben die Leute noch, es wird über die Filme gesprochen, es gibt Kleinigkeiten zu Essen und Trinken. Man ist zusammen. Das Kino bringt diese Menschen zusammen. Es gibt für sie also einen Grund, ins Kino zu gehen, anstatt daheim auf der Couch zu sitzen und den Fernseher einzuschalten. Man will mit anderen Menschen zusammen sein, Teil einer Gemeinde. Das sehe ich als einen guten Ausgangspunkt. Wenn es gelingt, diesen gemeinschaftlichen Gedanken zu fördern, dann werden die Menschen ins Kino zurückkehren – auch wenn es Eintritt kostet. Es muss eine Erfahrung sein, eine Einladung. Wenn man den Eindruck hat, es sollen einem nur eben mal 20 Dollar abgeknöpft werden und dann kann man wieder gehen, wird man in der heutigen Unterhaltungslandschaft keinen Fuß auf den Boden bekommen. 20 Dollar sind viel Geld für die meisten Menschen, da muss man eine Stunde oder mehr dafür arbeiten. Und mit den 20 Dollar ist der gesamte Kinobesuch nicht abgegolten, nur die Eintrittskarte. Wenn man also will, dass die Menschen ihr hart verdientes Geld investieren, müssen sie auch einen adäquaten Gegenwert erhalten. Weil einem bewusst sein muss, ob es einem gefällt oder nicht: Für diese 20 Dollar kann man einen Monat lang die gesamte Welt des Kinos bei sich zuhause haben. Es geht also um die Erfahrung: Was biete ich für 20 Dollar? Ein Film allein reicht vielleicht nicht mehr. Da muss man Gehirnschmalz reinstecken.
Liegt es bisweilen nicht auch daran, dass es leicht ist, einen Marvelfilm zu vermarkten, es aber zunehmend schwerfällt, wenn es um einen Film geht, der ein etwas komplexeres Thema hat?
Ava DuVernay: Meine Erfahrung im PR-Bereich hat mich eines gelehrt: Jeder Film lässt sich vermarkten, jedes Thema lässt sich vermarkten. Man muss nur den richtigen Ansatz finden, wie man die Menschen erreicht. Aber es bedarf dann auch einer gewissen Anstrengung. 08/15 führt uns nicht weiter.
Darf man abschließend noch fragen, was Sie als Nächstes machen werden?
Ava DuVernay: Ich arbeite wieder an einer Dokumentation. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich „13“ gemacht. In diese Richtung werde ich wieder gehen, eine weitere Forschungsreise in die Geschichte der Vereinigten Staaten. Viel will ich nicht verraten, außer dass der Film in genau in einem Jahr zu sehen sein wird.
Das Gespräch führte Thomas Schultze.