Mit „Sieger sein“, der auf der Berlinale Weltpremiere feierte, hat Soleen Yusef den Drehbuchpreis Kindertiger gewonnen. Wir fragten gleich bei ihr nach: Hat ein Preis, der von einer Kinderjury vergeben wird, eine andere Bedeutung? Und worauf kommt es bei einem guten Kinderfilm ihrer Meinung nach an?
Ihr „Sieger sein“ hat schon mehrere Preise gewonnen. Welchen Stellenwert hat die Auszeichnung mit dem Kindertiger für das beste verfilmte Drehbuch, bei dem ausschließlich Kinder entscheiden?
Soleen Yusef: Dieser Preis ist von immensem Wert – nicht nur für mich als Drehbuchautorin, die zum ersten Mal einen Kinderfilm schreiben und realisieren durfte, sondern auch für die Lebensrealitäten und die etwas anderen HeldInnen, die „Sieger sein“ ins Zentrum rückt. Die verlesene Laudatio der Kinder bei der Preisverleihung hat mich zu Tränen gerührt und mir die Bestätigung gegeben, dass Kinder und Jugendliche sich nach ernsteren Themen sehnen – Themen, die sie tagtäglich beschäftigen: politisch, gesellschaftlich und ganz persönlich, sei es in ihrem familiären Umfeld oder in ihrer Schullaufbahn. Kinderfilme müssen natürlich unterhalten, emotional berühren und in erster Linie Spaß machen. Dennoch tragen wir als Filmschaffende einen humanistischen Bildungsauftrag. Diesen hat die Kindertiger-Jury in „Sieger sein“ sehr wertgeschätzt und nach der Verleihung in persönlichen Gesprächen betont. Sie wünschen sich vielfältigere Kinderfilme und authentischere Geschichten, die sie ernst nehmen können. Sie wollen großes, unterhaltsames Popcornkino, jedoch keine verzerrten Wahrheiten. Das ist ein Appell – unser gemeinsamer Appell.
Worin lag in Ihren Augen die größte Herausforderung bei der Drehbucharbeit?
Soleen Yusef: Drehbuchschreiben ist ein langwieriger Prozess, und es gibt keine Abkürzung, wenn es darum geht, komplexe Figuren und Welten zu schaffen. Das ist zumindest mein Anspruch. Gepaart mit dem Ziel, trotzdem zu unterhalten und universelle Geschichten zu erzählen, in denen sich viele Menschen wiedererkennen können. „Sieger sein“ ist ein autofiktionaler Kinderfilm mit einem kurdischen Flüchtlingsmädchen als Heldin, das jedoch für viel mehr steht. Fast alle Kinder, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, können sich mit ihr identifizieren. Sie verkörpert nämlich in erster Linie ein einsames Kind, das gemobbt wird und Außenseiterin ist. Ihre Herausforderung besteht darin, ihren Platz zu finden – in der Schule, in Deutschland und in ihrem neuen Leben. Diesen Spagat zwischen sehr persönlichen und gleichzeitig allgemeingültigen Themen zu meistern, erfordert viel Zeit und Kraft. Nicht selten sind es neun bis zehn Drehbuchfassungen, bis ich wirklich zufrieden bin und jede Figur sowie deren Entscheidungen glaubhaft dargestellt habe.
„Zeit ist ein kostbares Gut in der Drehbucharbeit.“
Machte der persönliche Aspekt der Geschichte die Drehbucharbeit einfacher oder schwerer?
Soleen Yusef: Lassen Sie uns festhalten, dass jede Drehbucharbeit schwierig ist, egal ob sie auf persönlichen Erlebnissen basiert oder vollkommen fiktiv ist. Die Reise zur Entstehung von „Sieger sein“ war jedoch wirklich eine sehr schöne! Mit der Unterstützung meiner engagierten und kreativen Produzentinnen Sonja Schmitt und Wenka von Mukilicz habe ich über drei Jahre hinweg immer wieder an der Geschichte gefeilt. Dank der Initiative „Der besondere Kinderfilm“ und Heide Schwochow als Dramaturgin konnte ich mich vom ersten Exposé bis zur finalen Drehbuchfassung immer tiefer in das Projekt einarbeiten und die Welt sowie die Figuren in Etappen verfeinern. Zeit ist ein kostbares Gut in der Drehbucharbeit, und ich hatte das Glück, ausreichend davon zu besitzen, um aus einer sehr persönlichen Geschichte eine fiktionalisierte aber wahrhaftige Heldenreise zu gestalten. Denn das ist die Magie, die im Schreibprozess entstehen muss: Die echten Menschen werden in einer Geschichte zu Figuren und ihre inneren sowie äußeren Welten beginnen, ein Eigenleben zu entwickeln und wir lernen loszulassen und mitzugehen.
Ihr Film lief auch auf Kinder/Jugendfilmfestivals wie dem Goldenen Spatz und Schlingel, aber auch in Italien beim Giffoni Filmfestival, wo er in der Reihe Element +10 gewonnen hat. Festivals leben von der direkten Begegnung mit dem (jungen) Publikum. Welche Fragen kamen auf? Welche Reaktionen sind Ihnen im Gedächtnis?
Soleen Yusef: Schon die Premiere auf der Berlinale als Eröffnungsfilm der Generation hat mich, unseren Cast und unser Team komplett überwältigt. Das Kinderpublikum hat leidenschaftlich mitgefiebert – ähnlich wie bei einem echten Fußballspiel. So einen Enthusiasmus für Filme und Kino kannte ich zuvor nur vom kurdischen Publikum: Sie applaudieren, wenn Szenen schön, berührend oder lustig sind. Es ist ein fantastisches Gefühl, diese direkte, ungefilterte Reaktion zu erleben – so euphorisch und emotional. Die Wirkung von „Sieger sein“ war überall und gleichermaßen bemerkenswert und hat mich wirklich überrascht und beeindruckt. Der Film wurde nur mit Untertiteln gezeigt, und ich war zunächst besorgt, dass der Humor, die Emotionalität und das Verständnis für die Geschichte dadurch verloren gehen würden. Doch das Gegenteil war der Fall. Dies zeigte sich besonders in den vielen persönlichen, ernsten und engagierten Fragen und Kommentaren, die mich immer wieder extrem aufwühlen, inspirieren und motivieren. Diese Rückmeldungen zeigen, dass die wirklich wichtigen Themen des Films – wie Krieg, Flucht, Mobbing und Ausgrenzung – resonieren und zum Nachdenken anregen.
Die Fragen stellte Barbara Schuster
Spotlight:
Kindertiger
Der Kindertiger ist die mit 20.000 Euro höchstdotierte Auszeichnung für das Drehbuch eines realisierten Kinderfilms. Der Preis regt damit die Entwicklung neuer starker Kinderfilm-Stoffe an. Er wird seit 2008 von der Filmförderungsanstalt (FFA) gestiftet und in Kooperation von VISION KINO – Netzwerk für Film- und Medienkompetenz und KiKA, dem Kinderkanal von ARD und ZDF sowie in enger Zusammenarbeit mit der FBW-JUGEND FILMJURY und den Berliner SchulKinoWochen ausschließlich von Kindern und Jugendlichen vergeben. Der Kindertiger 2024 wurde am 29. November verliehen.
„Sieger sein“ wurde von DCM produziert und ins Kino gebracht (Start war am 11. April 2024)) Senderpartner sind MDR, WDR, SWR; Koproduzent Boje Buck