Ein außergewöhnliches Projekt: Vier Filme von vier Regisseur:innen, die jeweils auf Filmlänge einen Fall aus dem prämierten Podcast „Zeit Verbrechen“ aufarbeiten.
FAST FACTS:
• Vier eigenständige Filme der renommierten Filmemacher:innen Mariko Minoguchi, Helene Hegemann, Faraz Shariat und Jan Bonny
• Basierend auf dem preisgekrönten Journalismus-Podcast „Zeit Verbrechen“: Durchschnittlich 1,5 Millionen Streams pro Folge
• Produziert von Jorgo Narjes und Uwe Schott für X Filme
• Weltpremiere auf der Berlinale: Alle vier Teile im Panorama
• Screening auf dem 34. Film Festival Cologne
• „Beste Krimiserie des Jahres“ auf dem Deutschen FernsehKrimi-Festival
Mehr als durchschnittlich 1,5 Millionen Abrufe verzeichnet jeder neue Podcast der Reihe „Die Zeit – Verbrechen“, verantwortet von Sabine Rückert, stellvertretende Chefredakteurin der Zeit, und Andreas Sentker, seit 2018 erscheinen alle zwei Wochen neue Fälle. Es ist weniger ein Kulterfolg als mit sauberem Journalismus erarbeitetes Vertrauen, einen anderen Blick auf True Crime zu werfen, abseits von Schlagzeilen heischendem Sensationalismus: neugierig, engagiert, menschlich, geprägt von dem Bedürfnis, einen anderen Blick auf Verbrechen zu werfen, zu durchdringen und verstehen. Was ein guter Ansatzpunkt für die vier kurzen Filme, zwischen 55 und 76 Minuten lang, die für die Miniserie „Zeit Verbrechen“ entstanden sind, federführend betreut von Produzent Jorgo Narjes und seinem X-Filme-Kollegen Uwe Schott. Ein filmisches Unterfangen, wie es in Deutschland im Grunde ohne Vergleich ist: vier separate Produktionen, jeweils basierend auf einem Fall des Zeit-Podcasts, aber durch und durch geprägt von der Handschrift und künstlerischen Sensibilität seines Machers/Macherin. Arthouse-Autoren-True-Crime-Kolportage-Krimi-Dramen.
Man kann sie rütteln und schütteln, auf den Kopf stellen und neu anordnen, wie man will. Es gibt keine Gebrauchsanweisung für die Filme, die Jan Bonny, Helene Hegemann, Mariko Minoguchi und Faraz Shariat (alphabetische Anordnung!) gemacht haben. Es gibt keine Zusammenhänge, überlappende Handlungen oder Figuren, Verweise oder übergeordnete Themen. Jeder von ihnen hat sich einfach nur eine Episode aus den Zeit-Podcasts ausgesucht und gemäß seiner Vision umgesetzt. Was sie eint, ist eine klare Konsequenz, eine bewusste Entscheidung, nicht den Mainstream bedienen zu wollen, sondern dem jeweiligen „Verbrechen“ gerecht werden zu wollen, Fallstudien zu sein, die den journalistischen Ansatz der Vorlage weiterschrauben und einer künstlerischen Betrachtung zu unterziehen. Die Tatsachen sind die Tatsachen. Aber die Perspektive ist die einer Adaption, einer Annäherung mit den Mitteln filmischer Fiktion. Das ist nicht unbedingt easy viewing. Die Filme sind sperrig, fordernd, eigenwillig, ambitioniert. Und sehr faszinierend, wenn man sich nicht gerade einen „Tatort“/„Polizeiruf 110“ mit anderen Mitteln erwartet.
Ursprünglich war „Zeit Verbrechen“ als Miniserie für Paramount+. Nach der kurzfristigen Entscheidung der Plattform, vorerst keine weiteren deutschen Produktionen mehr auswerten zu wollen, konnten sich die Produzenten zwar einerseits darüber freuen, als erstes lokales Serienprojekt ausgewählt worden zu sein, mit allen Folgen im Panorama der diesjährigen Berlinale zu laufen, und beim Deutschen FernsehKrimi-Festivalmit als „beste Krimiserie des Jahres“ ausgezeichnet zu werden, standen andererseits vorerst aber ohne Sender/Plattform da. Erst im September konnte vermeldet werden, dass mit RTL+ ein neues Zuhause gefunden wurde. Nach einem Screening beim 34. FFCGN geht „Zeit Verbrechen“ jetzt endlich am 6. November auf Sendung, begleitet von einem zugehörigen Dokumentarangebot, das die einzelnen Fälle noch einmal journalistisch beleuchtet.
„Dezember“
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 55 Minuten; Regie & Drehbuch: Mariko Minoguchi; Besetzung: Samuel Benito, Lisa Hagmeister, Kailas Mahadevan, Sebastian Zimmler, Aljoscha Stadelmann, Shadi Eck, Carlo Stolle, Jule Hermann; Plattform: RTL+; Start: 7. November 2024
REVIEW:
Es ist nicht immer einfach, „Dezember“ anzusehen. Es gibt stellen, an denen ist es fast unerträglich, sich „Dezember“ anzusehen. Weil von der ersten Szene an feststeht, was passieren wird, wie diese Geschichte ausgehen wird. Und man doch nicht fassen kann, dass es passiert. Dass es nicht irgendwann einen Punkt geht, an dem jemand einschreitet und beendet, was nicht passieren muss, nämlich der Tod eines jungen Mannes, der zu Beginn des Abends einfach nur in einen Club gegangen ist und eine gute Zeit haben will. Wie kann das passieren? Wie kann es angehen, dass das einstmalig defätistische Motto des Songs „Heute Spaß, morgen tot“ der Berliner Punkband VKJ für den Jungen Tim zu einer unausweichlichen Realität wird? Mariko Minoguchi zeichnet diesen Weg des Schreckens nach, ganz nüchtern, ganz sachlich, in ihrem ersten Film seit „Mein Ende. Dein Anfang.“, eine völlig andere Arbeit und doch ebenfalls befasst mit Schicksal, mit einer Geschichte auf Leben und Tod, in der das Verbrechen keine aktive Tat ist, sondern ein Akt des Unterlassens.
„Der Panther“
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 76 Minuten; Regie: Jan Bonny; Drehbuch: Jan Bonny, Jan Eichberg; Besetzung: Lars Eidinger, Anna Bederke, Marc Poersken, Sahin Eryilmaz, Magdalena Laubisch; Plattform: RTL+; Start: 6. November 2024
REVIEW:
Jan Bonny dreht seinen „Bad Lieutenant“. Lars Eidinger gibt den Harvey Keitel. Eine wilde Sache, Geschichte einer Höllenfahrt, nur dass am Schluss nicht Johnny Aces „Pledging My Love“ läuft. In einem Jahr, in dem Eidinger mit seiner Darstellung des Dirigenten Tom in Matthias Glasners Lola-Gewinner „Sterben“ noch einmal zurechtgerückt hat, was von ihm zu erwarten ist, wenn er sich einer Rolle voll und ganz ausliefert, ist seine Darstellung des „Panthers“ eine weitere Kostprobe seines darstellerischen Go-for-Broke-Ansatzes. Anders ginge es auch nicht, denn dieser Johnny ist auch ein 150-prozentiger Typ, einer, der immer mit dem höchsten Einsatz pokert und nicht anders kann, als sein Blatt ständig zu überreizen. Als V-Mann hat er sich bei einer kriminellen Rockerbande einschleusen lassen, aber als Zuschauer ist einem nicht immer ganz klar, von wem da die größte kriminelle Energie ausgeht. Weil Johnny ein doppeltes Spiel spielt, um seine aberwitzigen Schulden loszuwerden und seiner Tochter einen Weg aus dem Drogensumpf zu ermöglichen. Wenn Bonny und DP Jakob Berger noch näher mit der Kamera rangingen, müsste Lars Eidinger sie selbst halten: Ferrara prallt auf Fassbinder und Johnny unsanft auf den harten Boden der Realität.
„Deine Brüder“
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 67 Minuten; Regie: Helene Hegemann; Drehbuch: Helene Hegemann, Esther Preussler; Besetzung: Zethphan Smith-Gneist, Lavinia Wilson, Luna Wedler, Eren M. Güvercin, Adrian Vasile But, Berke Cetin, Esmael Agostinho, Furkan Yaprak, Anke Kellerer, Roland Bonjour, Tom Lass, Frank Büttner, Detlev Buck; Plattform: RTL+; Start: 7. November 2024
REVIEW:
Eine Wahnsinnstat, mitten in Deutschland: Fünf Junge bringen auf offener Straße ihren besten Freund um. Kaltblütig, wie es scheint. Eine klare Sache für das Gericht, will man meinen: Diese Tiere gehören weggesperrt. Helene Hegemann nimmt sich dieser tragischen Geschichte in ihrer ersten Arbeit als Film-Regisseurin seit „Axolotl Overkill“ (2022 inszenierte sie noch eine Folge von „Strafe“). Die Sprünge in den Zeitebenen muss man erst einmal verdauen, dann schält sich aus dem ursprünglichen „Kids“-Szenario eine differenzierte, fein gezeichnete und vor allem ungemein empathische Geschichte über eine Gruppe von Freunden, die das unkontrollierte und erratische Verhalten ihres Kumpels an den Rand der Verzweiflung treibt: . Das ist so clever und hintergründig erzählt, dass man als Zuschauer ähnlich gefordert ist wie das Gericht, das über die Schuld der Jungs zu entscheiden hat: Es ist eben nicht alles so, wie man zunächst glaubt. Und daraus ergeben sich erstaunliche Szenen, in denen „Deine Brüder“ zwingende Parallelen zieht zwischen den jungen Männern, die vor Gericht stehen, und den Menschen, die über ihr Schicksal entscheiden.
„Love By Proxy“
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 58 Minuten; Regie: Faraz Shariat; Drehbuch: Faraz Shariat, Raquel Dukpa, Paulina Lorenz; Besetzung: Maja Simonsen, Fiifi Jefferson Pratt, Jan Henrik Stahlberg, Sandra Hüller, Briggitte Akosua Appiah, Maame Esi Otibu, Kobina Amissah-Sam, Sophie Rois; Plattform: RTL+; Start: 6. November 2024
REVIEW:
Eigentlich darf man gar nichts verraten über Faraz Shariats (plus seine Jünglinge-Mitstreiter) Beitrag zum „Zeit Verbrechen“-Reigen, weil der Spaß umso größer ist, je weniger man weiß über diese 58 Minuten lange Schnurre, die eine der größten Liebesgeschichten der letzten Jahre wäre, wenn man seinen Augen und dem gefilmten Material denn wirklich trauen könnte. In jedem Fall geht es um einen Rentner, der vor Liebe und Glück blind ist, weil er unerwartet eine neue Frau seines Lebens gefunden: Jan Henrik Stahlberg spielt diesen Ralf, der jeden noch so gut gemeinten Ratschlag seiner Tochter – souveräner Gastauftritt: Sandra Hüller – in den Wind schlägt und einfach weiß, dass er der Einzige ist, der eine junge Amerikanerin retten kann, die in Ghana feststeckt, nachdem sie dort hingereist war, um das Erbe ihres ermordeten Vaters anzutreten. „Love By Proxy“ ist ein Film gewordener Phishing-Versuch, erzählt ebenso knallig und rabaukig wie die Farbgebung der Geschichte, die jederzeit dazu bereit ist, einem nachhaltig den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Thomas Schultze