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REVIEW STREAMING: „Fancy Dance“

Indiehit aus Sundance mit Lily Gladstone über eine indigene Frau, die nach ihrer verschwundenen Schwester fahndet und die Nichte von den weißen Großeltern entführt. 

CREDITS:
O-Titel: Fancy Dance; Land / Jahr: USA 2023; Laufzeit: 92 Minuten; Regie: Erica Tremblay; Drehbuch: Erica Tremblay, Miciana Alise; Besetzung: Lily Gladstone, Isabel Deroy-Olson, Shea Whigham, Audrey Wasilewski, Ryan Begay, Crystle Lightning; Plattform: Apple TV+; Start: 28. Juni 2024

REVIEW: Er ist weit mehr als nur eine Abfolge von Schritten, die man im Ballettunterricht lernen kann, erklärt Roki Goodiron (Isabel Deroy-Olson) der neuen, ahnungslosen Frau (Audrey Wasilewski) ihres Großvaters Frank (Shea Whigham). Der „Fancy Dance“ wird bei den Powwows ihrer Stammesgemeinschaft miteinander und füreinander getanzt, für den Zusammenhalt und gegen das Vergessenwerden, für die, die es selbst nicht mehr können und die, die verschwunden sind. Wie Tawi, Rokis Mutter, deren Foto seit zwei Wochen an der Wand mit den Vermisstenmeldungen im Seneca-Cayuga-Reservat in Oklahoma hängt. Roki hofft, dass sie beim bevorstehenden Powwow wieder auftaucht, den gemeinsamen Mutter-Tochter-Tanz hat sie schließlich noch nie verpasst. Bis dahin kümmert sich ihre Tante Jax (Lily Gladstone) um sie, ihre „kleine, andere Mutter“, wie es auf Cayuga heißt. Sie bringt ihrer Nichte vieles bei, zum Beispiel Wissen über ihre Kultur und die Natur, wie sich Jäger an ihre Beute heranschleichen, etwa an die Autoschlüssel und Trucks alter, weißer Männer, und wie man alles Mögliche zu Geld macht. Jax ist auch die einzige, die wirklich nach Tawi sucht. Ihr Bruder JJ (Ryan Begay), der für die örtliche Polizei arbeitet, hat die Bundesbehörden um Hilfe gebeten, doch die sind mehr daran interessiert, die Vormundschaft für die 13-Jährige aufgrund von Jax‘ Vorstrafen an ihre weißen Großeltern zu übertragen, die außerhalb des Reservats leben. Als das Jugendamt mit einem Gerichtsbeschluss vor der Tür steht, bleibt Jax nichts anderes übrig als Roki zu „entführen“: In einem gestohlenen Auto machen sie sich auf den Weg zum Powwow in Oklahoma City – und in diesem Fall lässt das FBI nicht lange auf sich warten.

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„Fancy Dance“ von Erica Tremblay (Credit: Apple)

„Thelma & Louise“ in der Welt von „Reservation Dogs“: Das Kinodebüt der indigenen Regisseurin Erica Tremblay ist eine Liebeserklärung an ihre Native Community, ein berührendes Roadmovie mit zwei mitreißenden Heldinnen, gänzlich fokussiert auf die Authentizität der Figuren und Story, ohne Effekte oder Effekthascherei, straightforward Storytelling mit einer eindringlichen, sozialkritischen Botschaft. Das Projekt wurde vom Indigenous Program des Sundance Instituts unterstützt und feierte im letzten Jahr beim Festival in Park City Premiere, wo Tremblay zuvor bereits ihren Kurzfilm „Little Chief“ (2020) vorgestellt hat, ebenfalls mit Lily Gladstone in der Hauptrolle. Sie führte anschließend bei einer Episode der zweiten Staffel von „Reservation Dogs“ Regie und war Produzentin der dritten Season der bahnbrechenden Dramedy-Serie, an die „Fancy Dance“ auf den ersten Blick ebenso erinnert wie an den Caméra d’Or-Gewinner „War Pony“. Es sind die immer gleichen, einfachen Häuser, Trailer, Gemeinschaftszentren in den Reservaten, Tankstellen, Schrottplätze, Einkaufszentren, alles geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit, Gleichgültigkeit, Folgen eines gescheiterten Systems, in dem Kinder schneller erwachsen werden müssen, als es anderswo das Gesetz erlaubt und das nicht viel Raum für Spiritualität lässt. Wer hier lebt, hat keine andere Wahl, als Regeln zu brechen – nach dem Motto: Warum ein System respektieren, das einen selbst nicht respektiert? 

„Fancy Dance“ erzählt das alles ohne Verbitterung, lässt die Tatsachen für sich sprechen wie die Gesichter der Hauptdarstellerinnen. Lily Gladstone, seit Kelly Reichardts „Certain Women“ quasi Spokesperson der indigen LGBTQ+-Community und nun in ihrem ersten Film seit ihrem oscarnominierten Auftritt in „Killers of the Flower Moon“ zu sehen, ist Jax Goodiron wie auf den Leib geschrieben, sie verkörpert deren Ängste, Sehnsüchte und Verzweiflung, ohne ein Wort zu sagen, man kann alles an ihren Augen ablesen und an den fürsorglichen und verschwörerischen Blicken, die sie ihrer Komplizin zuwirft. Isabel Deroy-Olson, die man glatt für ihre kleine Schwester halten möchte, tritt buchstäblich in Gladstones Fußstapfen, sie spielte schon in der Thriller-Serie „Under the Bridge“ deren Part als jüngeres Mädchen. Zusammen bewegen sie sich durch den Film, als wäre er tatsächlich ein einziger Tanz, mit federnden, wie aufeinander abgestimmten Schritten, blindem Vertrauen, dem gleichen Skaterlook, dem gleichen Stolz, der gleichen Hartnäckigkeit. „We ain’t the quitting type“, sagt Jax an einer Stelle. Sie kann nicht lockerlassen, bis sie weiß, was wirklich mit Tawi geschehen ist, ebenso wenig will Roki die Hoffnung aufgeben, sie wiederzufinden. Im Laufe ihres Roadtrips, der dann auch eine ähnlich dramatische Wendung nimmt wie der von „Thelma und Louise“, verändert sich die Art ihrer Beziehung, Roki wird schlagartig erwachsen, Jax muss sich auf die Werte und Traditionen ihrer Kultur zurückbesinnen. Man muss kein Cayuga sprechen, um zu verstehen, was ihr „Fancy Dance“ am Ende des Films sagen möchte, der so unfassbar schön und traurig und tröstlich zugleich alles zusammenfasst, was hinter und vor den beiden Frauen liegt. Man wird ihn jedenfalls nicht so schnell wieder vergessen. 

Corinna Götz