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REVIEW SAN SEBASTIÁN: „El Llanto / The Wailing”

Sensationell intensiver Horrorfilm über drei junge Frauen, die über Jahrzehnte durch eine namenlose Bedrohung geeint werden, die sie wie ein Fluch verfolgt und sie in Angst und Schrecken leben lässt.

CREDITS:
Land / Jahr: Spanien, Argentinien, Frankreich 2024; Laufzeit: 109 Minuten; Regie: Pedro Martín-Calero; Drehbuch: Isabel Peña, Pedro Martín-Calero, Besetzung: Ester Expósito, Mathilde Ollivier, Malena Villa

REVIEW:
Wenn eine Hauptfigur eines Horrorfilms in ihrem Zimmer das Poster eines Kieslowski-Films hängen hat (for the record: „Drei Farben: Rot“), dann heißt es aufgemerkt. Wobei: Die Szene kommt ungefähr zur Hälfte der Laufzeit von „El Llanto / The Wailing“, da muss man niemand mehr darauf aufmerksam machen, dass sich das Hinsehen lohnt. Da ist es bestenfalls noch eine Bestätigung dessen, was man im Grunde seit der ersten Szene weiß: Das Regiedebüt des 41-jährigen Spaniers Pedro Martín-Calero, ein erfahrener Musikvideo-Regisseur (u. a. The Weeknd), der auch das Drehbuch gemeinsam mit Isabel Peña geschrieben hat, ist eine kleine Sensation im wohl kuratierten Wettbewerb des 72. San Sebastián International Film Festival – einer von vier spanischen Titeln, die um die Goldene Muschel konkurrieren. Wie das ungewöhnliche Hochhaus in La Plata, das man gleich zu Beginn des Films erstmals zu sehen bekommt, wie es sich mit leichter Schräge phallisch in die Höhe schraubt, da natürlich zunächst noch einfach als auffällige Kulisse im Hintergrund, ragt auch der zugehörige Film heraus aus dem Gros der diesjährigen Horrorfilme, übertrifft sogar noch die aktuell herausragenden Titel des Genres („Longlegs“, „Cuckoo“). 

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„El Llanto / The Wailing“ von Pedro Martin Calero (Credit: SSIFF)

Man wird daran erinnert, dass der Horrorfilm eine gute Tradition hat im spanischen Kino hat, zuletzt vor rund 20 Jahren eine kreative und auch international kommerzielle Hochphase erlebt hatte mit Produktionen wie „The Others“, „REC“, „Bruderschaft des Todes“ und „Das Waisenhaus“. Dabei ist die Stimmung und Umsetzung dieses hintergründigen Schockers doch näher dran an den Abgründen des J-Horror: An „Ring“ muss man denken, „The Grudge“, aber auch, und da sieht man die filmische Klasse ganz deutlich, die auch über das Genre hinauswächst, an das Kino eines Brian De Palma, weil es auch um Voyeurismus geht, um das zwanghafte Festhalten des Schreckens auf Bewegtbild, das Verlieren und Stürzen in Bilder: Erst in der Kamera wird hier das namenlose Böse, das die Figuren heimsucht wie ein Fluch, den man nicht abschütteln kann, sichtbar, eine Todesangst, die sich nicht abschütteln lässt, weil sie immer da ist, omnipräsent, allgegenwärtig. Man spürt sie, auch wenn man sie nicht sieht – es sei denn eben durch eine Kamera oder auf dem Bildschirm.

Es braucht ein bisschen, bis man die disparaten Einzelteile der Geschichte zusammengesetzt bekommt, aber dann ist der Effekt umso stärker. Zur Einführung, mehr oder weniger ohne Worte, sieht man eine junge Frau, die unbeschwert mit ihren Freunden in einen Club zieht zum Tanzen. Sie hat ein paar Pillen eingeworfen, fordert den DJ auf, zu seiner pumpenden Technomusik das Stroboskop einzuschalten. Im Blitzlichtgewitter wandelt sich der Moment der Ausgelassenheit wie in Stop-Motion zu nacktem Terror, bis die junge Frau ihren Kopf mit voller Wucht gegen die Bar schlägt und dann beim fluchtartigen Verlassen des Clubs in die Lautsprecher rennt. Schnitt auf die Titelkarte „Andrea“, eine andere junge und attraktive Frau in Madrid, die darunter leidet, dass ihr Freund sich in Sydney befindet und sie nur mit Textnachrichten mit ihm kommunizieren kann. Und nun von ihren Eltern erfährt, dass sie adoptiert wurde, das Baby einer französischen Frau in Argentinien, das sie so weit wie möglich weggeben wollte. Andrea erfährt Beunruhigendes über die Mutter, die sie nie kannte: 20 Jahre musste sie wegen Mordes ins Gefängnis, nach ihrer Entlassung starb sie in dem Haus, in dem sie einst festgenommen worden war. Sie ahnen, welches Haus das sein könnte. Und nun beginnen merkwürdige Dinge zu passieren: In ihren Videoclips sieht Andreas Freund einen unbekannten alten Mann im Hintergrund. Kurz darauf muss Andrea im Videocall hilflos mitansehen, wie ihr tausende Kilometer entfernt lebender Freund von diesem Mann ermordet wird. Und dann entdeckt sie das Haus, in dem ihre Mutter starb – nur dass es jetzt in Madrid steht.

Das Kapitel „Camila“ nimmt den Film dann mit in die Vergangenheit, vor ungefähr 25 Jahren in Del Plata, zu einer Filmstudentin, die nach einem langweiligen Kurzfilm von ihrem Professor den Auftrag erhält, sich einfach eine Videokamera zu schnappen und die Wirklichkeit festzuhalten. Dabei wird sie auf Marie aufmerksam, die wir als die junge Frau vom Anfang des Films erkennen – und die die Mutter Andreas sein wird. Je länger man Camila folgt, wie sie obsessiv Marie mit der Kamera folgt, desto mehr beginnt sich der Kries zu schließen, beginnen die vielen bedrohlichen Merkwürdigkeiten Sinn zu ergeben, bis der Film sich beim Besuch in besagtem Haus zu einem Showdown der puren Raserei steigert, ein für alle Mal die Motive und Themen sichtbar werden, ein einziger Klageschrei, ein Lamento, das sich durch die Jahrhunderte zieht, ungewöhnlich effektiv und auf den Punkt umgesetzt, als habe jemand begriffen, wie man das Finale von Edgar Wrights verkorksten „One Night in Soho“ richtig umsetzen müsste. Dass der Film damit noch nicht zu Ende ist, auf „Marie“ schließlich noch eine Namenskarte folgt, ist zwingend. Warum das so ist, soll hier aber nicht verraten werden. Es muss reichen, wenn man hier sagt: So gut wie bei „El Llanto / The Wailing“ hatte es Horror in diesem Jahr noch nicht. 

Thomas Schultze