Knochenharter Schocker über die Bewohner eines Wohnblocks in den Banlieues, die sich mit einer Invasion aggressiver Giftspinnen konfrontiert sehen.
FAST FACTS:
• Attack the Block: Großartig effektiver Spinnenschocker aus Frankreich
• In Frankreich größter Boxoffice-Erfolg eines lokalen Horrorfilms seit über 20 Jahren
• Sébastien Vaniček empfiehlt sich als Talent von Morgen (dreht als nächstes einen neuen „Evil Dead“)
• Prominente Fürsprecher: Sam Raimi und Stephen King sind Fans
• Weltpremiere bei der 80. Mostra in Venedig
• Deutschlandpremiere als Abschlussfilm des Fantasy Film Fest 2023
CREDITS:
O-Titel: Vermines; Land / Jahr: Frankreich 2023; Laufzeit: 106 Minuten; Regie: Sébastien Vaniček; Drehbuch: Sébastien Vaniček, Florent Bernard; Besetzung: Théo Christine, Sofia Lesaffre, Finnegan Oldfield, Jérôme Niel, Lisa Nyarko; Verleih: Plaion Pictures (Vertrieb STUDIOCANAL); Start: 21. November 2024
REVIEW:
„Les camemberts“ nennen die Menschen in Noisy-le-Grand die imposanten Arènes de Picasso, die nach Entwürfen des Architekten Manuel Núñez Yanowsky von 1974 bis 1985 errichtet wurden und als so etwas wie das Wahrzeichen der 70.000-Seelen-Gemeinde am östlichsten Rand von Paris gelten, gekennzeichnet von runden Hochhausscheiben, die aussehen wie eine überdimensionierte Telefonwählscheibe – oder eben ein riesiger Camembert. Die Arènes de Picasso sind der filmisch prägnante Schauplatz des Spielfilmdebüts von Sébastien Vaniček und verweisen gleich auf eines der augenfälligsten Talente des jungen Franzosen: Der Mann hat ein Auge fürs Kino, für starke Bilder, für Bewegung und Kinetik. Was „Spiders – Ihr Biss ist der Tod“ mehr sein lässt als nur einen weiteren Spinnenhorror in der Ahnenfolge von „Arachnophobia“, „8 Legged Freaks“ und dem diesjährigen „Sting“. Der Film macht was her. Und sieht deutlich teurer aus, als er gekostet haben kann.
Vor allem funktioniert „Spiders“ nicht nur mit seinem konsequent durchdeklinierten Spannungsszenario, sondern eben auch als hartes Sozialdrama in der Tradition des Kämpferischen Französischen Kinos, an der Seite von „Hass – La haine“, „Die Wütenden“ oder „Athena“: Genrekino wie live aus den Banlieues, mit der Sprengkraft harter Hiphop-Beats. Während sich „Spiders“ über weite Strecken konzentriert auf den verzweifelten Überlebenskampf seiner zunächst fünf Hauptfiguren, schält sich mit zunehmender Dauer immer stärker auch eine soziale Analogie heraus: Was ist das Leben junger Menschen mit migrantischen Wurzeln in den Vorstädten von Paris, wenn nicht ein ewiger Kampf gegen staatliche Willkür. Wenn da als Graffito zu lesen ist „Mathys fickt die Bullen“, dann ahnt man, wie die emotionale Gemengelage aussieht. Da ist der Originaltitel natürlich auch viel besser, weil anspielungsreicher. „Vermines“, also „Ungeziefer“, mag auf die sich rasend verbreitenden Sandspinnen rekurrieren, die sich in dem Wohnhaus in der Vorstadt vermehren wie die Karnickel und der Prämisse eines „Attack the Block“ einen eigenen Monstermovie-Dreh geben. Genauso bezieht sich der Titel aber auch darauf, wie die Bewohner besagten Wohnhauses, insbesondere die Jugend, von den Behörden gesehen werden: Geziefer. Kann weg. Das wiederum ist ein Dreh, wie man ihn beispielsweise aus Romeros „The Crazies“ kennen mag.
In einer arabischen Wüste beginnt der Film, unter Steinen sucht ein Trupp Männer nach Sandspinnen: selten, rasend schnell, giftig. Sehr giftig. Sehr sehr giftig. Wie man gleich miterleben darf, weil drei Männer auf die Jagd gehen, aber nur zwei Männer mit der wertvollen Beute zurückkehren, die danach in kleinen Tupperbehältern in die Welt geschickt werden. Einer von ihnen landet in einem Krämerladen in Noisy-Le-Grand und über diesen Umweg bei Kaleb, gespielt von Théo Christine aus „Gran Turismo“, der in eingangs erwähnten Hochhausblock wohnt, in dem man sich jederzeit den Showdown von „Die Wütenden“ vorstellen könnte und wo der Sinnspruch aus „La haine“ bestens passt, in dem ein Mann, der aus dem obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers fällt, bei jedem Stockwerk sagt: „So weit, so gut“. Weil natürlich gar nichts gut ist. Auch schon vor der gespenstischen Invasion der Achtbeiner, die umso mehr narrative Wucht entwickelt, weil man längst auch gefangen ist in dem persönlichen Drama der Hauptfiguren, zwei Geschwister, die seit dem Tod der Mutter auf Abstand zueinander gegangen sind, was auch direkten Niederschlag auf ihren Freundeskreis hat. Auf gut deutsch: Es steht mehr auf dem Spiel als nur das Leben von ein paar Schachfiguren, die in Richtung Killerspinnen geschoben werden. Es geht um Figuren, an deren Nöten und Befinden man Anteil nimmt.
Man kann schon verstehen, warum sich dem Vernehmen nach Sam Raimi und Stephen King für „Spiders“ begeistern – erstgenannter so sehr, dass er Regisseur Vaniček nach Hollywood geholt für einen neuen „Evil Dead“-Spinoff: Der Film funktioniert, sieht prima aus, steckt voller interessanter visueller Ideen und versteht es vor allem, ein Maximum an Spannung mit einem Minimum an Aufwand zu erzielen. „Spiders“ ist immer dann Creepshow mit sich rasend vermehrenden Sandspinnen, die sich in den Kadavern ihrer Opfer einnisten und nach dem Schlüpfen rasend vergrößern, wenn die Geschichte danach verlangt, und immer dann Sozialdrama, wenn die Filmemacher die Zusehenden einmal kurz Luft holen lassen, bevor die Spannungsschraube dann im nächsten Schreckensszenario wieder angezogen wird. Das erinnert dann tatsächlich an Romero, dieser explosive Mix aus Horror und Politik, ist aber ganz modern verortet im Hier und Jetzt in einem Frankreich sozialer Spannungen, in dem eine unkontrollierte Spinneninvasion immer auch Sinnbild ist für gesellschaftliche Entwicklungen: Hier ist etwas entglitten, und jetzt frisst es die Menschen von innen heraus.
Thomas Schultze