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REVIEW KINO: „Sing Sing“

Eindringliches Drama über eine Gruppe von Insassen des Gefängnis Sing Sing, die in einem Kreativprogramm hinter Gittern ein ambitioniertes Theaterstück einstudieren.

CREDITS:
Land / Jahr: USA 2023; Laufzeit: 105 Minuten; Regie: Greg Kwedar; Drehbuch: Greg Kwedar, Clint Bentley; Besetzung: Colman Domingo, Clarence Maclin, Sean San José, Paul Raci; Verleih: Weltkino; Start: 27. Februar 2025

REVIEW:
Keinem Gefängnis in den Vereinigten Staaten eilt ein derartiger Ruf wie Donnerhall voraus wie Sing Sing. Nicht San Quentin oder Folsom Prison in Kalifornien, nicht Attica oder Rikers Island an der Ostküste. Die Sing Sing Correctional Facility in Ossining im Bundeststaat New York, eröffnet schon im Jahr 1826, bis heute mit mehr als 1500 Insassen, erlangte ihre traurige Berühmtheit, weil sich hier der Elektrische Stuhl befand, der den bitteren Spitznamen Old Sparky erhielt und auf dem bis zur Abschaffung der Todesstrafe 1972 614 Männer und Frauen in den Tod beförderte. Bis heute gilt Sing Sing als einer der härtesten Knäste in den USA. Seit knapp 30 Jahren macht das Gefängnis aber auch positive Schlagzeilen aufgrund positiver Initiativen wie das 1996 eingeführte Rehabilitation Through the Arts Programme, in dem professionelle Schauspieler von außen in das Gefängnis bekommen, um Schauspiel-Workshops zu betreiben und Stücke einzustudieren und aufzuführen.

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Greg Kwedars „Sing Sing“ mit Colman Domingo und Clarence Maclin (Credit: Divine Film / A24 / Weltkino)

Dieses Programm steht auch im Zentrum des Films „Sing Sing“, den Regisseur Greg Kwedar und sein Koautor Clint Bentley gemeinsam mit den ehemaligen Sing-Sing-Insassen Clarence „Divine Eye“ Maclinund John „Divine G“ Whitfield basierend auf „The Sing Sing Follies“ von John H. Richardson und „Breakin‘ the Mummy’s Code“ von Brent Buell entwickelten. Maclin spielt sich in der Verfilmung selbst, einen zu Gewaltausbrüchen neigenden Gefängnisinsassen, der zunächst wenig Sinn und persönlichen Gewinn darin sieht, sich als Schauspieler zu versuchen. Divine G wiederum ist die Hauptfigur, ein unschuldig wegen Mordes einsitzender Mann, der unverdrossen um seine Freilassung kämpft und sich zum Star des Theaterensembles entwickelt hat, ein schauspielerisches Naturtalent, überzeugt von der transformativen Kraft der Darstellung. Er wird in dem Film von einem der wenigen professionellen Schauspieler der Produktion gespielt, dem mit zwei Tonys ausgezeichneten Theaterstar Colman Domingo, der mehr und mehr auch vor der Kamera von sich Reden macht, zuletzt in der Netflix-Produktion „Rustin“, die ihm seine Oscarnominierung bescherte. 

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Greg Kwedars „Sing Sing“ mit Colman Domingo (Credit: Divine Film / A24 / Weltkino)

Der Film selbst mutet wie ein Workshop ein, eine unmittelbare Verlängerung dessen, wovon er erzählt: Die Produktion des Films wird zum Film selbst, ein Möbius-Strip empathischer Erzählung. Der Alltag in Sing Sing wird weitgehend ausgeblendet und bestenfalls in Gesprächen und dem gegenseitigen Umgang der Figuren angedeutet. Und doch spürt man die Last dieser beklemmenden Einrichtung in jeder Einstellung, sieht man also nicht einfach nur zu, wie eine Männergruppe an einem Theaterstück arbeitet, es einstudiert und schließlich zur Aufführung bringt. Es ist immer klar, dass es ein Theaterstück ist, das in Sing Sing aufgeführt wird, womöglich die einzige Möglichkeit ist, die Monotonie des Gefängnisaufenthalts zu durchbrechen, eine Form von Freiheit, und sei es nur innere Freiheit, zu erleben, ein Outlet zu finden für Emotionen und Empfindungen, die ansonsten hinter Gittern eingedämmt werden müssten. 

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Greg Kwedars „Sing Sing“ mit Colman Domingo (Credit: Divine Film / A24 / Weltkino)

Um die Konfrontation zwischen Divine G und Divine Eye geht es schließlich und letztendlich, zwei grundverschiedene Menschen mit wenig Verständnis und noch weniger Sympathie füreinander. Wie sich ihre Pfade annähern, überkreuzen, schließlich parallel verlaufen. Dass sie es können, ist der Kraft des Schauspiels zu verdanken. Wie sie sich in ihre Rollen versenken, ihre Figuren verstehen lernen, ihre Texte verinnerlichen, etwas in sich finden, eine Emotion, ein Erkennen, ein Wachstum, darum dreht sich der Film in faszinierenden Szenen, die dokumentarisch wirken, aus sich selbst heraus entstanden, der Vollprofi an der Seite der Laien, die eine gemeinsame Sprache sprechen lernen, ein Verständnis entwickeln, die als Menschen wachsen – all die Dinge, die das Rehabilitation Through the Arts Programme propagiert. Man erlebt persönliche Triumphe und Niederlagen, erlebt Solidarität und Unterstützung, regelrecht reduziert auf ihre Essenz, gefilmt mit 16mm, hautnah, wie im Moment entstanden. 

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Greg Kwedars „Sing Sing“ mit Clarence Maclin und Colman Domingo (Credit: Divine Film / A24 / Weltkino)

Und man sieht Colman Domingo zu, diesem Titanen, wie er den Insassen zusieht und in sich aufnimmt. Und man sieht den Insassen zu, wie sie Domino zusehen und in sich aufnehmen, ein Austausch auf Augenhöhe, begleitet von dem großartigen Paul Raci, der als Leiter der Theatergruppe mehr oder weniger die Rolle wiederholt, die er in „Sound of Metal“ gespielt hatte, diese drahtige, instensive Mann, der aussieht wie Wes Anderson, wenn dieser über die Untiefen des Lebens nicht nur gelesen, sondern sie selbst erlebt hätte. Ein bisschen ist das auch das Ziel von „Sing Sing“, das Erfahrbarmachen, das unmittelbare Anteilnahmehabenlassen, nicht draufschauen von außen, sondern durch das Zusehen Teil des Geschehens zu werden. Wie es gutem Theater gelingt. Wie es gutem Kino gelingt. Wie es „Sing Sing“ gelingt. 

Thomas Schultze