Eindringliche Geschichte zweier Schwestern in Lima in den frühen Neunzigerjahren, die kurz vor ihrer Auswanderung in die USA erstmals wieder Kontakt zu ihrem unzuverlässigen Vater erhalten.
FAST FACTS:
• Von der Schweiz für den Oscar für den besten internationalen Film eingereicht
• Weltpremiere auf dem Sundance Film Festival 2024
• Gewinner des Großen Preises der Reihe Generations Kplus auf der Berlinale
CREDITS:
Land / Jahr: Schweiz, Spanien, Peru 2024; Laufzeit: 104 Minuten; Regie & Drehbuch: Klaudia Reynicke; Besetzung: Abril Gjurinovic, Luana Vega, Jimena Lindo, Gonzalo Molina, Susi Sánchez; Verleih: Arsenal; Start: 5. Dezember 2024
REVIEW:
Nachdem Alan García 1985 die Macht in Peru übernahm und der anti-imperialistischen APRA-Partei erstmalig zum Sieg verhalf, sah sich das Land wirtschaftlich zunehmend isoliert und mit einer Hyperinflation konfrontiert, die Anfang der Neunzigerjahre 7650 Prozent betrug, das Militär gegen die Regierung aufbrachte und soziale Unruhen, Gewalt auf den Straßen und rigide kontrollierte Ausgangssperren nach sich zog. Das ist die Welt, in der „Reinas – Die Königinnen“ von der schweizerisch-peruanischen Filmemacherin Klaudia Reynicke spielt, der nunmehr recht überraschend von der Schweiz als Beitrag für das diesjährige Oscarrennen ausgewählt wurde, vor Ort in Lima und in spanischer Sprache gedreht, aber eben majoritär von der Schweizer Alva Filmhergestellt (die Firma hinter dem diesjährigen Gewinner des Schweizer Filmpreises, „Amsel im Brombeerstrauch“). Ein kleiner Fernsehclip aus diesen Tagen, in dem der Moderator erklärt, wie sich der Preis für Grundnahrungsmittel wie Zucker binnen eines Tages verdoppeln oder teilweise sogar verdreifachen wird, fasst die Situation im Lande zusammen: grotesk, bizarr, angespannt, bar jeder Logik.
Zucker wird dann im Verlauf der Handlung noch einmal eine Rolle spielen, denn Carlos, den wir gleich zu Beginn des Films als Taxifahrer kennenlernen, der einem Fahrgast erzählt, er sei doch eigentlich Schauspieler und habe Rollen in ein paar C-Produktionen von Roger Corman gehabt, ist ein Glücksritter, ein rechter Strizzi und Hallodri, der sich bisweilen nur aufgrund seines immensen Organisationstalents über Wasser halten kann und im Kofferraum seines klapprigen Autos ein paar Säcke Zucker als Verhandlungsmasse mit sich führt. Er kann kaum für sich selbst sorgen. Dass er es mit seinen väterlichen Pflichten für seine beiden Töchter, die 16-jährige Aurora und ihre deutlich jüngere Schwester Lucía, nie so richtig ernst nahm, versteht man sofort. Dass seine Liebe zu ihnen dennoch genuin ist, er es ernst meint, wenn er sie liebevoll „Königinnen“ nennt, versteht man auch. Er ist der Typ Überlebenskünstler, der nur dann die Erde nur mit seinen Fußspitzen streifen kann, wenn kein Gewicht an ihm dranhängt.
Aber jetzt ist 1992, und er wird gebraucht. Angesichts der sich zuspitzenden Situation im Lande will Carlos’ seit Jahren in Trennung von ihm lebende Frau Elena Lima hinter sich lassen und zu Familienmitgliedern in Minnesota auswandern, um ihren Kindern Sicherheit und Stabilität, eine Gegenwart und eine Aussicht auf Zukunft zu geben. Dazu braucht sie die Unterschrift des zweiten Erziehungsberechtigten, und so poppt Carlos, den man lang hinter sich gelassen glaubte, wieder in ihrem Leben auf, die Unzuverlässlichkeit in Person – nicht von ungefähr verdreht Elenas mondäne Mama die Augen: Nicht der schon wieder! Aber das ist die Situation. Und das ist die Geschichte, die „Reinas“ ganz zart erzählt, mit den offenen und wissbegierigen Augen der kleinen Schwester. Die Geschichte eines Abschieds und einer Entwurzelung. Und die Geschichte einer Annäherung und einer zweiten Chance. Manchmal beides gleichzeitig, und gerade in den widerstrebenden Emotionen so vortrefflich beobachtet und erzählt, bittersüß, von einer leisen Komik, schließlich dann auch dramatisch.
Unweigerlich stellt man im Kopf Querverbindungen her zu „Ainda estou aqui“ von Walter Salles, ein anderes beeindruckendes Porträt einer Familie unter Druck angesichts politischer Umwälzungen im Land. Wie der Salles ist auch der Film von Klaudia Reynicke getränkt von Zeit- und Lokalkolorit, scheinen gewisse Momente wie direkt aus der eigenen Erinnerung genommen. Und doch lassen sich die Filme schwer miteinander vergleichen (man sollte es auch nicht). Zwar wird es auch hier Zusammenstöße mit der Militärpolizei geben, werden die Hauptfiguren aufgrund einer Dummheit der beiden Mädchen mit der Willkür der despotischen Staatsmacht konfrontiert, aber der Fokus der Geschichte liegt auf den „Königinnen“, die der Film mit unendlichem Verständnis und liebevoller Anteilnahme verfolgt bei ihren Nöten und Sehnsüchten, ganz genau auch in der Betrachtung der Dynamik zwischen ihnen und den Versuchen der Mädchen, sich einen Reim auf die Situation zu machen, über die sie keine Kontrolle haben. Die Entscheidungen treffen die Erwachsenen, und die erscheinen oft töricht und kindisch, aber auch sauertöpfisch und mit sich selbst beschäftigt.
„Reinas“ hat etwas Schwärmerisches, wie man es in den leichten Momenten der Film von Sofia Coppola findet, aber auch etwas zutiefst Profundes, erkennt die Schwelle aus der Kindheit zum Erwachsenwerden wie eine zweite Geburt, wie man das ja auch aus den besten Beispielen dieser Art von Film kennt, von Truffaut oder Cuarón, nur dass der Blick unverkennbar der der Regisseurin ist, ihr Ton, ihre Geschichte, ihre Figuren, die es beherrscht, die Handlung einfach einmal abheben zu lassen wie in der tollen Sequenz, wenn Carlos erstmals wieder zu seinen Töchtern durchdringt, als er mit ihnen in einem Geländewagen durch die Dünen rauscht, dann aber auch ganz still und eindringlich sein kann, wenn sie einfach nur zusieht, wie ihre Figuren ihre sich radikal verändernde Welt betrachten. Aller Schmerz und alle Freude spricht dann aus ihren Bildern.
Thomas Schultze