Tiefgründiger, verstörender, hochspannender Psychothriller über ein Serienmörder-Groupie.
FAST FACTS:
• Festival-Überraschungshit mit Kultstatus
• Vierter Spielfilm des kanadischen Drehbuchautors und Regisseurs Pascal Plante („Nadia, Butterfly“)
• Premiere beim Toronto International Film Festival 2023, fünffach prämiert beim Fantasia Film Festival
CREDITS:
O-Titel: Les chambres rouges; Land/Jahr: Kanada 2023; Laufzeit: 119 Minuten; Drehbuch: Pascal Plante; Regie: Pascal Plante; Besetzung: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Locas, Natalie Tannous, Pierre Chagnon, Guy Thauvette, Maxwell McCabe-Lokos; Verleih: 24 Bilder; Start: 7. November 2024
REVIEW:
Sein verstörender Ruf eilt dem Film voraus, nicht umsonst wird gleich am Anfang eine Triggerwarnung ausgesprochen: In einem aseptisch weißen Gerichtssaal, der eher an die Isolierzelle einer psychiatrischen Einrichtung erinnert, wendet sich Richter Godbout (Guy Thauvette) mit sorgenvollem Blick an die Geschworenen, denn „die vorliegenden Beweise sind aufgrund ihres gewalttätigen Inhalts möglicherweise herausfordernd“. Verhandelt werden die grausamen Morde an drei blonden, blauäugigen Teenagerinnen, Kim, Justine und Camille, die im „Red Room“, einer Snuff-Seite im Darknet, von zahlungskräftigen Usern per Livestream verfolgt werden konnten. In dem tiefgründigen und komplexen Drehbuch des kanadischen Filmemachers Pascal Plante führt die digitale Spur zur Verhaftung von Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos), dem auch gleich ein medienwirksamer Spitzname, „Dämon von Rosemont“, verpasst wurde. In den zwei Horror-Videos, die den Behörden vorliegen, nach dem dritten wird noch gefahndet, könne man hinter der teuflischen Maske des Killers ohne Zweifel die Augen des Tatverdächtigen erkennen, so das Hauptargument der Staatsanwältin (Natalie Tannous).
Alles dreht sich um den Blick des Bösen in Plantes Film, der Blick sät Verdacht, beunruhigt, durchbohrt, beängstigt. Es ist der leere Blick der Protagonistin, die von Juliette Gariépy in ihrer ersten Kinohauptrolle mit unheimlicher Präzision verkörpert wird: Kelly-Anne campiert nachts vor dem Justizgebäude, um sich bei der Verhandlung den besten Platz in den Zuschauerreihen zu sichern, also in Sichtweite des Angeklagten. Sie ist ein Mörder-Groupie, hauptberuflich Model für ein Fetisch-Modelabel, nebenbei hat sie beim Online-Poker ein (Bitcoin-)Vermögen erspielt, mit dem sie auch das Luxusappartement in einem anonymen Wolkenkratzer mit grandioser Aussicht über Montréal finanziert. Sie verbringt ihr Leben im Internet, treibt sich dort in den finstersten Ecken herum, was womöglich die Obsession für einen mehrfachen Mädchenmörder erklärt. Nun versucht sie, wenigstens dessen flüchtigen Blick durch die Glasscheiben zu erhaschen, hinter denen er während der Verhandlung auf einem Stuhl hockt, um im Verlauf des Films kein einziges Wort zu sagen, keine Rührung zu zeigen, wenn die Staatsanwältin mit zitternder Stimme die Anklage vorträgt, beschreibt, wie der Killer seine unschuldigen Opfer entführt, gefoltert, missbraucht und zerstückelt hat. Der Anblick der später im Saal präsentierten Live-Mitschnitte aus dem „Red Room“ bleibt dem Kinopublikum zwar erspart, nicht aber deren Ton, die markerschütternden Schreie und das Kettensägen-Geknatter, und die Reaktion der Angehörigen, Zeugen und Geschworenen.
„Red Rooms: Zeugin des Bösen“ ist in der Tat verstörend, weil man als Zuschauer in der Lage ist, sich die Szenen vorzustellen, auf die der Regisseur verzichtet, der sich ganz auf das Kopfkino, auf die Macht der Suggestion verlassen kann. Es ist der wohl subtilste Slasher-Film, den man je gesehen hat, der expliziteste Justizthriller, und weder das eine noch das andere, es ist ein ständiges „Was geht hier vor?“. Pascal Plantes vierter Spielfilm nach dem Sportdrama „Nadia, Butterfly“, der 2020 in Cannes Premiere feierte, erinnert mal an Olivier Assayas‘ abgründigen „Demonlover“, mal an Gaspar Noés traumatisierenden „Irréversible“, er ist ein wahres Suspense-Meisterwerk, der mit einer quälenden, schier endlosen Kamerafahrt beginnt, die die Hauptfigur auf dem Weg in den Gerichtssaal begleitet, um sie anschließend eiskalt zu ignorieren. Man wird gnadenlos auf die Folter gespannt, lange nicht schlau aus dem mittelalterlichen Score vonDominique Plante (Bruder des Regisseurs) und Kelly-Annes ebenso befremdlichem Gesichtsausdruck. Pascal Plante hat den Schlüssel zu ihrer Seele in den Untiefen des Internets vergraben, lässt den Zuschauer an der Schwelle zu diesem Tor zappeln, liefert Bit für Bit Informationen über Dinge, die man niemals wissen wollte über verborgene Netzwerke und Machenschaften, die von Cybercrime-Experten im Zeugenstand dargelegt und von der Hauptfigur auf dem Bildschirm vorgeführt werden. Sie stalkt die Mutter des dritten Opfers im Internet, hackt Mail-Adressen und Türöffner-Codes, schleicht um Camilles Schule herum wie ein True-Crime-Junkie.
„Scheiße. Du bist echt böse“, stellt ein anderes Mörder-Groupie etwa nach der Hälfte des Films fest, als das Drehbuch vorübergehend die Richtung eines Buddy-Movies einschlägt und Kelly-Anne mit Hilfe einer Antagonistin aus der frostigen Zurückhaltung lockt. Mit ihrem verängstigten Blick ist Clementine (Laurie Babin) alles, was Kelly-Anne nicht ist, sie ist unkontrolliert und ungefiltert, durchschaubar und menschlich. Sie hat ihr letztes Geld zusammengekratzt, um die Verhandlungen live mitzuerleben, sie glaubt fest an Chevaliers Unschuld, während Kelly-Anne aus einem bestimmten Grund vom Gegenteil überzeugt ist. Als der Richter die Entscheidung trifft, die „Red Room“-Aufnahmen der Öffentlichkeit vorzuenthalten, gesteht Kelly-Anne ihrer neuen Freundin, dass sie selbst im Besitz der Videos ist, und spielt sie, zwar widerwillig, für sie ab. Die Reaktion darauf ist der moralische Höhepunkt des Films, der sich daraufhin noch einmal neu erfindet und zu einem fesselnden Cyberkrimi entwickelt, in dem Kelly-Anne im Darknet wie besessen nach dem letzten Puzzleteil im Mordprozess sucht.
Drehbuch, Kamera, Schnitt – alles schützt die Anonymität der Protagonistin, die nicht einmal im Internet Spuren hinterlässt, bis ihr voyeuristischer Blick sie schließlich doch verrät, was alles verändert, das Farbschema, den ganzen irren Ästhetizismus des Films. Wer sich zufällig in der Artussage auskennt, ahnt den Plot-Twist vermutlich in dem Moment, in dem Kelly-Annes Online-Name „Lady of Shalott“ auf dem Desktop aufblinkt, der dann auch die mittelalterliche Zupfmusik erklärt, den ritterlichen Namen des Angeklagten und den des Sprachassistenten („Guenievere“) in ihrer Wohnung. Ihre Einsamkeit hat Kelly-Anne in die virtuelle Welt getrieben, und damit erst recht in die Isolation; das ungesunde Interesse der Menschen am Morbiden macht einen anderen erst zum Mörder. Am Ende ist „Red Rooms: Zeugin des Bösen“ eine raffinierte Abrechnung mit dem boomenden True-Crime-Genre, die dem Zuschauer auf erschreckende Weise die eigene Faszination für das Perverse und Obszöne vor Augen führt. „Verfallen Sie nicht dem Reflex, sensationsgierig oder populistisch zu sein“, mahnt der Verteidiger (Pierre Chagnon) zu Beginn, „grauenvolle Videos befeuern die Fantasie“. Der Film zeigt das krankhafte Ausmaß, das unsere unersättliche Neugier annehmen kann, blickt in die tiefsten Abgründe der Seele, die so düster sind wie das Darknet. Alle hätten bestätigt, dass sie im Stande seien, solchen Mordbildern ausgesetzt zu werden, heißt es in einer Szene, in der die am Anfang formulierte Warnung kurzerhand in den Wind geschlagen wird. „Du bekommst, was du verdienst“, ist die Pointe, die Kelly-Annes Sprachassistent vorschlägt.
Corinna Götz