Große französische Erfolgskomödie über einen gefeierten Dirigenten, der bei der Suche nach einem Knochenmarkspender erfährt, dass er adoptiert wurde und einen Bruder in der Provinz hat.
FAST FACTS:
• Ausgewiesener Crowdpleaser und Festivalliebling
• Galavorstellung der Hauptdarsteller Benjamin Lavernhe und Pierre Lottin
• Weltpremiere auf dem Festival de Cannes in der Vorzeigereihe Premiere
• Publikumspreis beim San Sebastián International Film Festival
• Gefeiert beim Fünf Seen Festival und Lumière Festival in Lyon
• Eröffnungsfilm der Französischen Filmwoche 24
• Kinostart in Frankreich am 27. November
CREDITS:
O-Titel: En fanfare; Laufzeit: 103 Minuten; Regie: Emmanuel Courcol; Drehbuch: Emmanuel Courcol, Irène Muscari, Besetzung: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Verleih: Neue Visionen; Start: 26. Dezember 2024
REVIEW:
Es ist furchtbar kompliziert und doch ganz einfach, wie das in den besten Komödien oft der Fall ist. Kompliziert, weil man binnen der ersten zehn Minuten des neuen Films von Emmanuel Courcol („Ein Triumph“) ziemlich viel Information speichern muss: Der gefeierte Dirigent Thibaut erfährt, dass er Leukämie hat, aber nicht auf eine Blutspende seiner Schwester vertrauen kann, weil er jetzt ebenfalls erfahren muss, mit 37 Jahren, dass diese Schwester nicht seine leibliche Schwester ist, er adoptiert wurde und, wenn er leben will, einen Bruder, von dessen Existenz er nichts wusste, ausfindig machen und überzeugen muss. Zack-zack geht das. Danach ist es ganz einfach: Die beiden grundverschiedenen Männer aus verschiedenen Städten und mit verschiedener Erziehung, der Feingeist und der grobe Klotz, müssen einander annähern und sich im Verlauf der Handlung zusammenraufen, aller Widersprüche und Hindernisse zum Trotz. Die Prämisse ist die Pflicht, abgehakt. Was dann kommt, ist die Kür. Beides beherrscht Regisseur Courcol, aber die Kür ist es, wie er die „Die leisen und die großen Töne“ abheben und fliegen lässt: Kein falscher Ton, kein falscher Schritt, keine falsche Emotion. Und ein Finale, das so gut ist, dass man danach erst einmal Luft holen muss.
Das Komplizierte und das Einfache: Das ganze Leben steckt in „Die leisen und die großen Töne“, seine Höhen und Tiefen, die Triumphe und die Niederschläge. Aber so geschickt erzählt, die Arme immer weiter ausbreitend, sich immer weiter öffnend für die Lebensrealitäten der beiden Hauptfiguren und mindestens einem halben Dutzend weiterer Charaktere aus ihrem Orbit, dass man doch stets überrascht ist, wie man eine vermeintlich allzu bekannte Geschichte doch so überraschend und beweglich auffächern kann, mit einem Blick auf Details und einer Warmherzigkeit, einem Verständnis, was Menschen ticken lässt. Und immer geht es um Alles, um das große Ganze. Zumindest anfangs ahnt man nicht, auf was für eine epische Reise einen das Drehbuch von Regisseur Courcol und seiner Mitautorin Irène Muscari mitnehmen wird. Da steht einfach nur der feingliedrige Thibaut vor dem derben Jimmy und bittet den jüngeren Mann, der sein Bruder ist, sein Leben zu retten. Es dauert dann eine Weile, bis die beiden Männer warm werden miteinander, zu fremd sind sie einander, zu anders sind die Welten, aus denen sie kommen, zu groß sind die Vorbehalte: Beide glauben einander durchschaut zu haben. Und sind dann überrascht, wie sehr sie die Musik verbindet, weltmännischer Dirigent der großen Meister der eine, Posaunist in einem ansässigen Marchkapelle der andere, vereint durch eine gemeinsame Liebe zum Jazz.
Nach und nach erwacht gegenseitiges Interesse füreinander. Thibaut ist bewegt von der Solidarität der Menschen und vom offenkundigen Talent des Bruders, ist aber blind für dessen eigentliche Realität als Aushilfskoch in der Schulküche in einer Gemeinde, die vom Fortschritt abgehängt wird: Die Fabrik soll geschlossen werden, die Zukunft ist ungewiss. Es wird dann darum gehen, über den eigenen Schatten zu springen, einander wirklich auf Augenhöhe zu begegnen. Wie gesagt: Emmanuel Courcol macht das mit einer traumwandlerischen Souveränität, ist nie anmaßend oder gar kitschig, findet in jedem Moment die nötige Wahrheit, ist nicht sentimental oder anbiedernd, erzählt von Identität und vergeblichen Träumen, erkennt die Tragik der Situation, den kosmischen Zufall, dass der eine auch das Leben des anderen hätte führen können: „Du hättest einen normalen Namen haben, hättest Jordan heißen können“, sagt Jimmy einmal. „Und du Jean-Baptiste“, antwortet Thibaut. Und dann zieht einem der Film dann doch auch den Boden unter den Füßen weg, als einem die Figuren ans Herz gewachsen sind, Thibaut und Jimmy sowieso, aber auch die alleinerziehende Mutter Sabrina und ihr Bruder, der Down-Syndrom hat und mit Jimmy in der Schulküche arbeitet, die Mitglieder der Marschkapelle. Schöner hätte man sich die Figuren auch in einer der großen britischen Sozialkomödien der Neunziger nicht ausdenken können, die offenkundig Pate standen.
Mit Benjamin Lavernhe und Pierre Lottin ist „Die leisen und die großen Töne“ perfekt besetzt, beide spielen Figuren, wie man sie von ihnen erwarten würde, aber offenbaren stets neue, unerwartete Seiten, verleihen ihren Charakteren eine Tiefe, die sie einem nahebringen, als hätte man das halbe Leben mit ihnen verbracht. Die Überheblichkeit von Thibaut, die Feinfühligkeit von Jimmy: da stecken ungeahnte Untiefen in den beiden Männern, und Lavernhe und Lottin liefern sehr feine Arbeit ab, wie sie aus vermeintlichen Klischees Menschen aus Fleisch und Blut machen. Ravels „Boléro“ sei das eine klassische Musikstück, auf das sich alle einigen könnten, erklärt Thibaut bei einer Orchesterprobe. Da nickt man vielleicht, aber ahnt noch nicht, wie recht er hat damit: Nach „Die leisen und die großen Töne“, ein Film über Musik und mit Musik, aber ohne Score, wird man die Komposition nie wieder hören können, ohne an diesen Film zu denken, einer der großen Crowdpleaser des Filmjahres 2024.
Thomas Schultze