Ebenso pfiffige wie gewagte Gesellschaftskomödie mit Starbesetzung über ein Ehepaar, das mit einem Vierer neuen Schwung in die eingefahrene Beziehung bringen will.
FAST FACTS:
• Frech-gewagte Gesellschaftskomödie mit Starbesetzung
• Toprollen für Florian David Fitz, Julia Koschitz, Friedrich Mücke und Entdeckung Lucía Barrado
• Deutsches Remake des spanischen Komödienhits „Amor en polvo“
• Kino-Regiedebüt des spanischen HFF-Absolventen Iván Sáinz-Pardo
• Koproduktion von NEOS Film, Wiedemann & Berg Film und epo Film
CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland, Österreich 2024; Laufzeit: 90 Minuten; Regie: Ivan Sáinz-Pradó; Drehbuch: Ivan Sáinz-Prado, Torben Struck, Florian David Fitz; Besetzung: Florian David Fitz, Julia Koschitz, Friedrich Mücke, Lucía Barrado; Verleih: LEONINE Studios; Start: 28. November 2024
REVIEW:
Die Sexkomödie hat keinen guten Leumund. Weil zwar (hoffentlich) jeder Sex hat, man (hoffentlich) gerne und ungezwungen über Sex spricht, aber (leider) Sex im Kino immer weniger für Alltag steht als für etwas Verruchtes, potenziell gar Verbotenes. Und ist nicht alles Lustige zum Thema gesagt mit dem Monty-Python-Bonmot „Knick-knack, ist ihre Frau ’ne Flunder?“? Der spanische Regisseur Iván Sáinz-Pardo, Absolvent der HFF und ab 15. November auch als Regisseur der Joyn-Comedyserie „Die StiNos – Ganz besonders stinknormal“ (hier unsere Besprechung) in Deutschland vertreten, tritt mit NEOS Film (Christoph Menardi, Torben Struck), Wiedemann & Berg Film (Max Wiedemann, Quirin Berg) und Unterstützung der österreichischen epo Film (Jakob Pochlatko) im Rücken mit seinem Kinodebüt den Gegenbeweis an: Da geht noch was. Den ein oder anderen zusätzlichen Einblick kann es schon noch geben, zumal der Regisseur mit einem Drehbuch arbeitet, von ihm geschrieben mit Produzent Struck und Hauptdarsteller Florian David Fitz, das zumindest für deutsche Verhältnisse ganz schön zur Sache geht, kein Blatt vor den Mund und zumindest in Teilen auch nicht vor die Schauspieler:innen nimmt.
Entsprechend fällt der Film, ein Remake der spanischen Erfolgscomedy „Amor en polvo“, die ursprünglich sogar von Sáinz-Pardo hätte inszeniert werden sollen, bis er aufgrund des verschlungenen spanischen Fördersystems seinen Hut nehmen musste, dafür aber die Chance für eine deutsche Neuverfilmung erhielt, mit der Tür ins Haus und kommt ohne Umschweife zur Sache. Sophie, gespielt von der fulminant aufspielenden Julia Koschitz in einem ihrer viel zu seltenen Kinoauftritte, und Paul, seit rund 20 Jahren verheiratet, haben einen Vierer organisiert. Bei sich in der Wohnung. In ein paar Stunden soll es losgehen. Guter Anfang: So forsch sollten Filme öfters starten, ohne Schnickschnack und umständliche Einführung der Figuren. Es geht ans Eingemachte. Erst einmal verbal. Und bald schon auch körperlich, wenngleich ganz anders, als man es zunächst erwarten würde. Entscheidend ist, dass der „Vierer“ gleich einmal im Raum steht, ein McGuffin vielleicht, wer weiß, ein Hingucker und Aufreger auf jeden Fall: Was wird passieren, wohin wird das führen? Und wird es wirklich zu dieser sexuellen Eskapade kommen – und was kann sie bedeuten für die vier Protagonisten dieser verspielten, anspielungsreichen und sexy Beziehungskomödie, die zwar nur an zwei Schauplätzen spielt, sich aber nicht anfühlt wie ein Kammerspiel. Dafür ist das visuelle Gespür des Regisseurs und seines Kameramanns Torsten Lippstock viel zu ausgeprägt. Es könnte ganz klein und eng sein. Es ist immer Kino.
Während es knistert, die Spannung sich steigert, ist man ganz nah dabei, wie Paul und Sophie mit ihrer eingefahrenen Beziehung ringen und schließlich auch mit der eigenen Courage, an diesem Abend sexuell wirklich alles auf eine Karte setzen zu wollen. Sie ist es, die Karriere gemacht hat, eine erfolgreiche Anwältin wurde. Er ist es, der die eigenen Ambitionen hintangestellt hat, zuhause geblieben ist, den Haushalt geschmissen und den gemeinsamen Sohn großgezogen hat. Der ist jetzt ausgezogen, und deshalb blickt das Paar ernüchtert auf seinen modernen Lebensentwurf mit stilvoller Einrichtung, Thermomix und den wundersamen Wonnen gepflegter Intimrasur. Gleichzeitig treffen sich ihre Mitstreiter des Abends in einer Bar, lernen sich dort kennen und bringen sich in Stimmung, die aufgeschlossene Mia (Lucía Barrado: was für eine Entdeckung!) und der entspannte Lukas (perfekter Gegenpart: Friedrich Mücke). An beiden Fronten werden Positionen verhandelt, Ideen und Wünsche geäußert, Möglichkeiten ausgetauscht. An der einen Stelle wird die Situation immer verfahrener und vertrackter, an der anderen funkt es, scheint alles möglich. Und mit den Protagonisten fragt man sich: Wie soll da noch ein Vierer draus werden?
Eine ähnliche Prämisse hatte sich bereits 1969 Paul Mazursky ausgedacht, in den führen Tagen des New Hollywood, mit seinem damals ungeheuer gewagten Bäumchen-wechsel-dich-Spiel „Bob & Carol & Ted & Alice“. „Der Vierer“ steht dem Klassiker nicht nach: Auch hier wird die spürbare sexuelle Spannung genutzt, um den Fokus auf den Alltag richten zu können, mit einer guten Chemie zwischen den Darsteller:innen und geschliffenen Dialogen, wie man das aus „Ein perfektes Geheimnis“ und den „Der Vorname“-Filmen kennt, allesamt erfolgreiche Beispiele für moderne Gesellschaftskomödien. Und allesamt mit Florian David Fitz im Cast, der beste attraktive Jedermann und Sympathieträger, den das deutsche Kino aktuell zu bieten hat. Und in „Der Vierer“, gemeinsam mit Julia Koschitz, Friedrich Mücke und der Geheimwaffe Lucía Barrado, noch einen entscheidenden Schritt weiter geht in dieser neugierigen Versuchsanordnung, die weniger angriffslustig ist als Mike Nichols in „Closer“, weniger gallig als Ang Lee in „Der Eissturm“, aber immer mit dem Finger am Puls der Figuren und vielleicht unserer Zeit sogar ein bisschen voraus, eloquent und sehr, sehr lustig.
Thomas Schultze