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REVIEW KINO: „Amsel im Brombeerstrauch“

Eindringliches Porträt einer 48-jährigen Einzelgängerin, die in ihrem Dorf in Georgien ihr Leben endlich in die eigenen Hände nimmt.

CREDITS:
O-Titel: Blackbird Blackbird Blackberry; Land/Jahr: Schweiz, Georgien, Deutschland 2023; Laufzeit: 110 Min.; Regie: Elene Naveriani; Drehbuch: Nikoloz Mdivani, Elene Naveriani; Besetzung: Eka Chavleishvili, Temiko Chinchinadze, Pikria Nikabadze, Anka Khurtsidze, Tamar Mdinaradze, Lia Abuladze; Verleih: Eksystent; Start: 18. April 2024

REVIEW:
Die Zeiten, in denen man das georgische Kino primär mit Otar Iosseliani assoziierte, sind passé. Eine neue Generation von georgischen Filmemachern ist herangewachsen und produziert ganz eigene, eindringliche Filme, die dafür sorgen, dass man das kleine Land am Schwarzen Meer an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, umgeben von den Bergen des Südkaukasus, als Filmnation zunehmend als next big thing nach Rumänien gehandeln wird. Dea Kulumbegashvili, Aleksandr Koberidze und Elene Naveriani sind drei der führenden Namen dieser New Wave. Alle Drei erzählen Geschichten aus ihrem Land, die eng verwoben sind mit den Menschen und der Kultur Georgiens, blicken aber auch mit neugierigen Augen von außen auf ihr Land: Kulumbegashvili wurde in den USA ausgebildet, Koberidze lebt in Deutschland, Naveriani ist in der Schweiz ansässig. 

Amsel im Brombeerstrauch x
Eka Chavleishvili begeistert in „Amsel im Brombeerbusch“ (Credit: Alva Film, Takes Film)

Weshalb die dritte Spielfilm-Regiearbeit der non-binären Filmemacher:in, „Amsel im Brombeerstrauch“, als schweizerisch-georgische Koproduktion entstand (mit der deutschen Heimatfilm als weiterem Koproduktionspartner) und nun, nachdem sie im vergangenen Jahr im Rahmen des 76. Festival de Cannes in der inoffiziellen Nebenreihe Quinzaine des Cinéastes Weltpremiere gefeiert hatten, beim Schweizer Filmpreis als bester Film gewann, obwohl es sich essenziell um einen georgischen Stoff handelt, die Adaption eines 2021 erschienenen Romans der ansässigen Schriftstellerin Tamta Melashvili und natürlich vor Ort gedreht, in georgischer Sprache, mit georgischen Schauspieler:innen. Auch bei Naveriani erkennt man sofort diese gewisse Strenge, eine Sprödheit in den Bildkompositionen und der statischen Kameraführung, hinter der sich aber ein Sinn fürs Skurrile entdecken lässt, ein leichtes Schmunzeln bei dem liebenswerten Blick auf die Menschen, die ihre Erzählung bevölkern. Während Koberidze bei seinem gefeierten „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“, der 2021 im Wettbewerb der Berlinale hohe Wellen schlug, eine Verspieltheit erkennen ließ, einen Hang zum magischen Realismus und kosmischer Vorsehung, lässt Naveriani den Blick eben nicht zum Himmel streifen in dem, was sie selbst als „Kino des Widerstands“ beschreiben, kämpferische Plädoyers für „marginalisierte Leben“, die ohne diese Filme keine Stimme hätten.

Die Erzählung ist verankert in der Realität, steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Und bricht doch auch immer wieder mit dem eigenen Sozialrealismus, lässt Rückblenden oder Fantasiemomente ununterbrochen einfließen. Wie es eben der 48-jährigen Hauptfigur Etero entspricht, eine Einzelgängerin, die nach dem frühen Tod ihrer Mutter unter der Fuchtel ihres Vaters und ihres Bruders zu leiden hatte und sich nun als Einzelgängerin in ihrer kleinen Gemeinde mit ihrem bescheidenen Laden mit Beauty-Produkten behauptet, ein Ort, wo die Gegenwart, wie wir sie kennen, bestenfalls bei der Jugend angekommen ist. Kein Handyklingeln, keine SMS, kein Internet, keine Computer, die vom Wesentlichen ablenken können. Nur einmal setzt sich Etero die Kopfhörer eines jugendlichen Mädchens mit blaugefärbten Haaren auf und hört deren Musik: „I Eat Boys Like You for Breakfast“ von dem schwedischen Kollektiv Riot Grrrl Sessions. Ein Songtitel, der Programm ist für den gesamten Film, nur eben nicht mit den Power-Akkorden wütenden Punks, sondern fein gezeichnet und subtil, aber eben doch auch intrinsisch in die DNS des Gezeigten verwoben.

Man findet Etero sofort toll, diese aufrechte und stolze Frau, deren Züge ein wenig an Frida Kahlo erinnern, fulminant gespielt von Eka Chavleishvili, die für Elene Naveriani schon in deren Vorgänger „Wet Sand“ vor der Kamera stand, der 2021 im Wettbewerb von Locarno lief. Sie steht mit beiden Beinen fest im Leben, meist in klobigen Gummistiefeln gekleidet, weshalb ein kurzer Fehltritt beim Sammeln von Brombeeren an einem Abhang direkt am Fluss sie buchstäblich aus dem Gleichgewicht bringt. Gerade noch kann sie sich festhalten, um nicht von den reißenden Wassermassen verschlungen zu werden. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie förmlich, wie ihr Leichnam geborgen wird und die Bewohner des Dorfes nur kurz mit den Achseln zucken, obwohl sie Etero schon ihr Leben lang kennen. Das hat Folgen. Sie lässt sich auf eine Affäre mit einem verheirateten Lieferanten ein und verliert ihre Jungfräulichkeit auf dem Boden ihres Ladens: Nicht von ungefähr liegt er unten, sitzt sie auf ihm. Auch beim Sex lässt sich Etero von niemandem diktieren, was sie tun und lassen soll. 

So entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die Etero vor dem Rest der Welt geheim hält, sie aber auch einen anderen Blick auf die Menschen um sie herum werfen lässt. Immer steht sie im Mittelpunkt, ihre Vorliebe für wuchtiges Blätterteiggebäck, ihr neues Selbstbewusstsein einer Frau, der Sex und Männer immer egal waren – als junge Frau war sie nur einmal in eine andere Frau verliebt. Aber nun nehmen auch die anderen Frauen der Gemeinde Form an, lassen sich kleine Akte des Widerstands in der patriarchalisch geprägten Welt entdecken, Momente unausgesprochener Solidarität. Bis es eine weitere entscheidende Wendung gibt, als die aufrechte Heldin des Films einen schwarzen Ausfluss in ihrer Unterwäsche entdeckt und beginnt, mit ihrem Leben abzuschließen, bevor sie sich zu Ärzten in die Hauptstadt Tiflis begibt. Aber auch jetzt schlägt Elene Naveriani noch einmal einen wilden Haken, wie es das Leben nun einmal tut, wie es das Kino nun einmal tut und wie es einer so wunderbar beharrlichen Hauptfigur würdig ist, die es nicht aussprechen muss, aber unmissverständlich klarmacht, dass sie Jungs wie uns zum Frühstück verspeist, wenn sie wollte. 

Thomas Schultze