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REVIEW FESTIVAL: „Die zärtliche Revolution“ (Annelie Boroș)

Bei dem Dokumentarfilm-Debüt „Die zärtliche Revolution“ von Annelie Boroș über den Dauer-Pflegenotstand in Deutschland verknüpft die junge Filmemacherin gekonnt eine persönlich-intime Geschichte mit einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahre.

Die zärtliche Revolution
Zwei Protagonisten im Dokumentarfilm „Die zärtliche Revolution“ (Credit: Lenn Lamster/Kinescope Film)

CREDITS:
Deutschland 2024; 93 Min.; Regie: Annelie Boroș; Produktionsfirma: Kinescope Film; Produzent:innen: Janina Sara Hennemann, Matthias Greving, Kirsten Lukaczik; Sender: ZDF – Das kleine Fernsehspiel; Förderung: DFFF, Filmförderfonds Bayern; Kinoverleih: W-film Distribution; Cast: Bożena Domańska, Samuel Flach, Arnold Schnittger, Nico Schnittger, Amanda Luna Tacunan; Weltpremiere: 9.11.24 Nordische Filmtage

REVIEW:
In Annelie Boroș‘ Dokumentarfilm-Debüt trafen ihre Recherche zur Pflegearbeit mit einem zutiefst persönlichen Moment zusammen: Die mit einer bipolaren Störung diagnostizierte befreundete WG-Mitbewohnerin beging Suizid. So verschmelzen in diesem mutigen Film intime Gedanken mit dokumentarische Beobachtungen bei Pflegebedürftigen, die wiederum in einem engeren Austausch mit Boroș standen und vor der Kamera auch aus deren Briefen an die junge Dokumentarfilmerin vorlesen.

Zu den ganz unterschiedlichen Protagonisten vor der Kamera zählt unter anderem Arnold, der sich liebevoll um seinen schwerbehinderten Sohn kümmert und für mehr Aufmerksamkeit für den unterbezahlten Pflegeberuf schon mal für eine lange Protest-Tour aufs Fahrrad steigt. Es gibt die polnischstämmige Pflegerin Bożena, die als junge Erwachsene nach Deutschland kam und sich dabei von der eigenen Familie zuhause entfremdete. Der querschnittsgelähmte Samuel wiederum arbeitet mit Gleichgesinnten an einem bezahlbaren inklusiven Wohnraum in München. Auch eine Klimaaktivistin kommt zu Wort, weil Dokumentarfilmerin Boroș das Thema ganzheitlicher angeht.

Die zärtliche Revolution“ bietet ein vielstimmiges Bild, wobei ganz hauptsächlich Pflegende und zu Pflegende zu Wort kommen und politische Vertreter vollständig ausgespart werden. Der Titel des Films deutet die gesuchte Utopie des Films an, dass es wohl eine bessere Welt wäre, wenn die Pflegekräfte die Gehälter von Fußballspielern bekämen. Die Doku ist sehr gut, um nachzuvollziehen, was für eine Herausforderung solche Pflegeschicksale für die Betroffenen, aber auch die Angehörigen sind.

Annelie Boroș
Filmemacherin Annelie Boroș (Credit: Ekaterina Skerleva)

Der Film nimmt auch dank der Briefausschnitte gut mit in die Psyche eines Querschnittsgelähmten, der erst einmal lernen musste, sich nicht schuldig zu fühlen, wenn er auf andere angewiesen ist. Genauso wie das Werk die Angst des pflegenden Vaters sehr gut in den Mittelpunkt rückt, wenn er nicht mehr sein sollte, wer dann den eigentlich nicht zu bezahlenden Fulltime-Pflegejob bei seinem Sohn übernähme. Die Produktion für Das Kleine Fernsehspiel des ZDF beobachtet dabei vor allem auch spannende Momente in der Nähe und Intimität zwischen Pflegerinnen und Pflegern zu den Pflegebedürfigen.

In der Altenrepublik Deutschland, wo die kinderreichen Boomer-Jahrgänge jetzt nach und nach in Rente gehen, wird das Thema noch gigantisch in seiner Bedeutung wachsen. Aber ein Stückweit wäre zum Beispiel auch die realistische Finanzierbarkeit von einem besseren Pflegesystem und der Blick über den Tellerrand in andere Länder spannend gewesen. Das könnten dann Aspekte für eine dokumentarische Fortsetzung sein. In den zwischenmenschlichen Szenen, bei denen man gar nicht merkt, dass eine Kamera dabei ist, liegt wiederum eine der ganz großen Stärken dieser sehr gut beobachteten und eben auch persönlichen Dokumentation.

Michael Müller