Faszinierendes Porträt dreier Frauen aus einfachen Verhältnissen, die sich mit dem Leben in Mumbai arrangieren müssen.
FAST FACTS:
• Payal Kapadia mit ihrem zweiten Spielfilm erstmals im Wettbewerb von Cannes
• Starke weibliche Stimme, starke weibliche Figuren
• Höchst politischer Blick auf ein Indien im Umbruch
CREDITS:
Land / Jahr: Frankreich, Indien, Niederlande, Luxemburg 2024; Laufzeit: 114 Minuten; Regie, Drehbuch: Payal Kapadia; Besetzung: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon
REVIEW:
Die Kamera gleitet durch die nächtlichen Straßen von Mumbai. Die Stadt wuselt. Man hört den Lärm, die Stimmung. Einzelne Stimmen drängen in den Vordergrund, erzählen aus ihrem Leben, vom Leben in der Metropole, von ihren Erfahrungen, bis es ein Chor ist, ein paar von Millionen Seelen, die hier ihrem Tagwerk nachgehen, die existieren im Schatten der Wolkenkratzer und des Wohlstands, der die Menschen an den Rand drängt. Man spürt, riecht, schmeckt Mumbai. Immer ist es nachts, meistens regnet es, oft wie aus Eimern. Oder man befindet sich in engen Räumen, oft ausgeleuchtet mit nüchternem Neonlicht. Aus dem Dokumentarischen schält sich das Fiktive. Drei Frauen rücken in den Mittelpunkt in dem zweiten Spielfilm von Payal Kapadia, die 2021 für ihr Debüt „A Night of Knowing Nothing” in der Quinzaine des Réalisateurs als kleine Sensation gefeiert und mit dem Goldenen Auge ausgezeichnet wurde.
Prabha ist eine erfahrene Krankenschwester, die sich nicht nur für die Patienten verantwortlich fühlt, sondern auch für die Kolleginnen. Sie unterstützt die erfahrene Hilfe Pravati, die von Immobilienhaien aus den bescheidenen vier Wänden gedrängt werden soll, in denen sie seit Jahren lebt, allerdings keine Papiere vorlegen kann. „Wenn man keine Dokumente hat, ist es so, als würde man nicht existieren“, sagt sie. Prabha nimmt sie in die Arme. Die junge Kollegin Anu hat Prabha bei sich in ihrer kleinen Wohnung aufgenommen, auch wenn Anu oft mit der Miete zu spät ist. Anus Ruf ist nicht der Beste. Sie soll sich mit jungen Männern treffen. Tatsächlich hat sie einen heimlichen Liebhaber, den Moslem Shiaz. Niemand darf das erfahren, alle wissen es. Als Prabha ein Paket aus Deutschland erhält, ein moderner Reiskocher „made in Germany“ darin, wird sie an ihren Ehemann erinnert, der kurz nach der Eheschließung nach Europa gegangen war, um dort in einer Fabrik zu arbeiten. Der Kontakt ist seit langem abgebrochen, jetzt muss Prabha wieder an ihn denken.
Für alle drei Frauen ist die Lage kompliziert, die Gegenwart unklar, die Zukunft ungewiss. Zu dritt reisen sie ins Land, an die Küste, in Pravatis Heimatdorf. Vielleicht ist es ein bisschen vermessen zu sagen, dass der nächtliche erste Teil die Dystopie war, der zweite Teil in Licht und Sonne und Natur und Meer die Utopie. Klar ist jedenfalls, dass hier Entscheidungen getroffen werden. Fühlte sich „All We Imagine As Light“ bislang einem strengen Realismus verpflichtet, öffnen sich jetzt die Bilder, strömt buchstäblich Magie durch die Geschichte, die erzählt von Solidarität und Zusammenhalt, von Vergebung und Verständnis, von Weiblichkeit und Freundschaft in einer strengen und rigiden Gesellschaft, deren patriarchalische Strukturen so tief sitzen, dass Aufbegehren sinnlos erscheint. Bis man es einfach tut. Wie Prabha und Pravati, die auf einmal Steine schleudern in Richtung der Baustelle, wo Häuser entstehen sollen, in deren Schatten sie bald existieren werden.
„All We Imagine As Light” ist kunstvolles Kino, ist prallvolles Kunstkino. Anders als bei ihren männlichen Kollegen im Wettbewerb, insbesondere Miguel Gomes mit „Grand Tour“ und Karim Aïnouz mit „Motel Destino“, hat Payal Kapadias Vision nichts Bemühtes, Angestrengtes, Behauptetes, Ausgedachtes. Ihr Kino ist keine Pose, sie gibt nicht an, sie denkt nicht, dass sie besser ist als die Menschen, die ihre Filme sehen. Sondern findet Bilder, die den Zuschauer an die Hand nehmen und erleben lassen, was ihre Figuren denken und fühlen. Am Schluss sitzen die drei Frauen zu Dritt an einer mit bunten Lichtern beleuchteten Standbar und blicken aufs Meer. Der Junge, der dort arbeitet, tanzt hinter ihnen. Ein Mann setzt sich zu den Frauen dazu. Was man sich alles mit Licht ausdenken kann. Was man sich alles als Licht ausdenken kann. Sofort ein Lieblingsfilm.
Thomas Schultze