Eindringliches Coming-of-Age-Drama über eine Zwölfjährige aus prekären Verhältnissen, die sich mit einem eigenartigen Vagabunden anfreundet.
FAST FACTS:
• Erster Spielfilm der großartigen Andrea Arnold seit acht Jahren
• Eindringliche Coming-of-Age-Geschichte mit einem tollen Blick für Jugendliche
• Weltpremiere im Wettbewerb von Cannes 2024
• Highlight auf den Festivals von San Sebastián und Hamburg
CREDITS:
Land / Jahr: Großbritannien 2024; Laufzeit: 119 Minuten; Regie & Drehbuch: Andrea Arnold; Besetzung: Nykiya Adams, Franz Rogowski, Barry Keoghan, Jason Buda, Jasmin Jobson; Verleih: MFA+, Start: 9. Januar 2025
REVIEW:
„Is It Too Real For Ya!”. Die Fontaines D.C. plärren es auf dem Soundtrack. Und Barry Keoghan singt es lautstark mit als Bug, mit nacktem Oberkörper voller billiger Tattoos, auf seinem E-Roller, mit seiner zwölfjährigen Tochter Bailey hinter ihm. IST ES ZU REAL FÜR DICH? Diese Frage stellt sich der neue Film von Andrea Arnold auch, die als Geschichtenerzählerin zurück ist auf den Straßen des modernen Großbritannien von unten, 18 Jahre nach „Red Road“ (Glasgow), 15 Jahre nach „Fish Tank“ (Essex), unverändert mit ihrem heutigen Ansatz des Kitchen-Sink-Kinos, mit dem bestechend einfühlsamen Blick für Mädchen auf dem Weg raus aus der Kindheit, die unter harten Umständen erwachsen werden. Nur dass Arnold diesmal ausbricht aus der strengen Realität ihrer bekanntesten Arbeiten, als wäre die Flucht in einen ganz eigenwilligen magischen Realismus der einzige Ausweg, das Leben in den Sozialblöcken von Kent hinter sich zu lassen. Oder ist „Bird“ sogar ein Märchen? Hinweise gäbe es genug. Und wer sich an Alan Parkers „Birdy“ erinnert, der, naja… Nomen est omen.
Denn nach einer verzweifelten Nacht, in der Bailey einfach raus musste, einfach weg, auf einer Wiese geschlafen hat, ist auf einmal Bird da, ein Vagabund wohl, in Fetzen und einem Rock. Steht neben den Pferden auf der Wiese, stellt sich vor, dreht ein paar Pirouetten mit seinem kauzigen Aussehen, aus der Zeit und vielleicht auch der Realität gefallen. Bailey ist fasziniert von dieser Erscheinung, folgt ihm durch die Straßen, sieht ihn, wie er auf einem Dach am Rand des Abgrunds kauert. Gespielt von Franz Rogowski, wirkt dieser Bird tatsächlich wie ein Vogel. Schon die erste Einstellung des Films hatte einem Vogel gehört, der seine Kreise zieht am Himmel. Bailey hat ihn gefilmt mit ihrem Smartphone, wie sie überhaupt ein besonderes Gespür für Tiere und Pflanzen hat und so ganz anders ist als die anderen Kids in den Sozialblöcken.
Immer wieder lässt der Film uns die Welt mit ihren Augen sehen, der verträumteste, metaphysischste Film von Andrea Arnold, der sich streckt und reckt und versucht, die Schwerkraft aufzuheben und hinter sich zu lassen, ein Film, der aus der Stadt drängt, in die Natur. Die Freundschaft zwischen Bailey und Bird ist zentral für die Geschichte, sie geht ungeahnte Wege, lässt staunen, überrascht. Dabei ist „Bird“ doch vor allem ein Porträt eines Mädchens, das sich bestens verstehen würde mit Katie Jarvis aus „Fish Tank“ oder Sasha Lane aus „American Honey“, eine Außenseiterin, die sich nicht wohl fühlt in ihrem Körper, der sich an der Schwelle zur Pubertät zu verändern beginnt: Nykiya Adams spielt sie anrührend in ihrer ersten Filmrolle, noch nicht einmal ein Teenager, aber emotional schon viel weiter, verzehrt von ihrem Verlangen nach ihrer Mutter, die mit ihrem neuen Mann und zwei Kindern auf der anderen Seite der Stadt lebt.
Wenn Andrea Arnold keine so gute, spezifische Filmemacherin wäre, könnte „Bird“ leicht wie Selbstparodie wirken, wie ein Andrea-Arnold-Film mit einem „™“ dran, fast wie gestanzt, aus der britischen Sozialrealismus-Manufaktur, zusammengesetzt aus übrig gebliebenen Momenten ihrer vorherigen Filme. Die Gang von Baileys Bruder Hunter mit ihren Masken wirkt ebenso ein bisschen too much, die Droogs aus „Clockwork Orange“ in der Light-Version, wie auch die Figur, die Barry Keoghan zu spielen vorgibt, weniger authentisch als behauptet wirkt – sieht man einmal von dem Spitzengag ab, dass er bei der Karaoke-Party nach seiner Hochzeit nicht so einen Scheiß wie „Murder on the Dancefloor“ singen wolle (in Anspielung an die mittlerweile berühmte Tanzszene Keoghans in „Saltburn“). Aber dann ist da immer wieder Bailey, dieses Mädchen, ihr erstaunliches Coming of Age, und das Herz geht einem über. Da macht „Bird“ alles richtig. Und das ist mehr als genug. Da kann es gar nicht real genug sein.
Thomas Schultze