Spin-off der „Fack Ju Göhte“-Filme, in dem Chantal und ihre beste Freundin Zeynep durch einen Zauberspiegel in die Märchenwelt entführt werden.
FAST FACTS:
• Spinoff-Film der „Fack Ju Göhte“-Filme
• Eventkomödie mit vielen deutschen Stars, angeführt von Jella Haase
• Sechster Kinofilm von Bora Dagtekin, erfolgreichster deutscher Filmemacher der letzten 15 Jahre
• Seine bisherigen Arbeiten lockten 29 Millionen Fans in die Kinos
• Größter deutscher Blockbuster in der ersten Jahreshälfte
• 8,8 Millionen Aufrufe für den offiziellen Trailer auf youTube
CREDITS:
Land/Jahr: Deutschland 2023; Laufzeit: 123 Minuten; Regie & Drehbuch: Bora Dagtekin; Besetzung: Jella Haase, Gizem Emre, Max von der Groeben, Mido Kotaini, Nora Tschirner, Maria Ehrich, Frederick Lau, Alexandra Maria Lara; Verleih: Constantin; Start: 28. März 2024
REVIEW:
Man kam wegen Zeki Müller. Man ging als Fan von Chantal und ihrer besten Freundin Zeynep (und fand Zeki Müller immer noch toll). Mehr als sieben Jahre nach „Fack Ju Göhte 3“, dem Abschluss der Erfolgssaga, die für mehr als 21 Millionen Ticketverkäufe in den deutschen Kinos gut war, hat Bora Dagtekin der erklärten Lieblingsfigur der Reihe nun einen eigenen, von ihm und Lena Schömann produzierten Film geschenkt. Nachdem sie zuletzt schon in den „Göhte“-Filmen eine immer zentralere Rolle eingenommen hatte, steht Chantal nunmehr über die volle Laufzeit von „Chantal im Märchenland“ – immerhin stolze 123 Minuten – im Mittelpunkt, was Jella Haase die Gelegenheit gibt, all die Social-Media-Sprech-Oneliner, die ihr seit mehr als zehn Jahren einen beständigen Platz in der deutschsprachigen Popkultur beschert haben, mehr oder minder ununterbrochen an den Mann zu bringen. Ganz schwindlig will einem werden bei all den „cringes“ und „hart“ und Meme-tauglichen Betrachtungen ihrer kleinen Welt, die sich voll und ganz um Insta, Likes, BFFs, „GNTM“, Drogeriemärkte und natürlich ihr Handy drehen.
Aber das war immer schon die ureigene Qualität der Dialoge von Bora Dagtekin: Sie sind in einer Form auf der Höhe der Zeit, dass absolute Identifikation bei der jugendlichen (und mittlerweile wohl auch etwas älteren) Zielgruppe gegeben ist. Zunächst lacht man über Chantal, das prollige Mädchen aus Neuperlach – oder wie man in München lange Jahre gerne zu sagen pflegte: Neuprolach -, das ein bisschen der Vicky Pollard aus der britischen Sketchserie „Little Britain“ oder Kelly Bundy aus „Eine schrecklich nette Familie“ nachempfunden schien, aber a) längst nicht so derb und krass wie Erstgenannte und b) niemals so hohl wie die Zweite ist, und von Jella Haase in einer entwaffnenden und ureigenen Weise gespielt wird, dass sich alle Vergleiche erübrigen. Je besser man sie kennenlernt, desto mehr lacht man mit ihr: Chantal mag auf dem ersten Blick all den gegebenen Klischees und Stereotypen Zucker geben, ist aber von Dagtekin und Haase so clever angelegt und durchgespielt, dass man als Zuschauer nur sein eigenes Privileg vorgeführt bekommt, wenn man sie vorschnell abstempelt. Chantal heißt nicht von ungefähr „Ackermann“ mit Nachnamen – ein augenzwinkernder Verweis auf die belgische feministische Filmemacherin Chantal Akerman, deren Versuchsanordnung „Jeanne Dielman“ bei der jüngsten Umfrage von Sight & Sound im Jahr 2022 von Filmkritikern und Filmemachern zum besten Film aller Zeiten gewählt wurde.
Es mag absurd erscheinen, in einer Filmkritik „Chantal im Märchenland“ und „Jeanne Dielman“ Seite an Seite zu erwähnen. Aber auch Dagtekins Film ist ein Frauenporträt und eine Entlarvung patriarchalischer Machtstrukturen, um es mal ganz pompös zu sagen, ein Plädoyer gegen Macker und Breitbeinigkeit, für Selbstbestimmung und Ermächtigung von Frauen. Anders als bei „Jeanne Dielman“ wird die durchaus dick aufgetragene Botschaft von „Chantal im Märchenland“ allerdings von mehr Menschen gesehen werden als nur vom Fanclub der Criterion Collection auf X (formerly known as Twitter). Heult leiser, cinephile Filmfans (letzter bemühter Chantal-Gag – versprochen!). Nun mag es nicht der Gipfel der Originalität sein, die Märchenwelt von Prinzessinnen und alle ihre Fallstricke auf die Hörner nehmen zu wollen, nachdem Disney das bei „Ralph reicht’s 2“ schon so pointiert und genial erledigt hatte. Es schadet aber auch nicht, Chantal und Zeynep aus ihrem Universum im Osten Münchens zu entführen und durch einen Zauberspiegel in die Ursuppe deutschen Kulturguts eintauchen zu lassen. Es ist ein bunter und beschwingter Schwank, wie Bora Dagtekin seine Heldinnen den Weg von doofen Rittern, überforderten Prinzen und einem blasierten jugendlichen König kreuzen, wahre Solidarität ausgerechnet bei den Hexen finden, Drachen konfrontieren und schließlich der pomadigen Männerwelt den Krieg erklären lässt.
Ein bisschen sieht das aus, als würden Jella Haase und Gizem Emre durch die Kulissen eines „Shrek“-Films wirbeln. Aber die Bauten, Kostüme und vielen Effekte sind nur Dreingabe, um die Experience zu würzen: Es geht einfach um die beträchtliche Frauenpower der beiden Heldinnen, die dieses Abenteuer nur als beste Freundinnen bestehen können und dabei ein bisschen auch über sich und ihr Leben lernen, während die Player in der Märchenwelt in tiefe Identitätskrisen gestürzt werden: Der Prinz kann den Erwartungen nicht entsprechen, Aladins Teppich kann nicht fliegen, starke Frauen werden zur Strafe in Gemälde verbannt. An Chantal und Zeynep ist es, das zu ändern, und dabei das Publikum mitzunehmen. Unter den vielen Gaststars, die vorbeischauen, darunter Max von der Groeben mit einer Figur, die das genaue Gegenteil seines Danger aus den „Fack Ju Göhte“-Filmen ist, sowie Maria Ehrich, Alexandra Maria Lara, Frederick Lau, Jasmin Tabatabai und für ungefähr den Bruchteil einer oder zwei Minuten in einem Gastauftritt Elyas M’Barek, ist Nora Tschirner als Erdmutter Sansara. Von ihr hätte man tatsächlich gerne noch mehr gesehen. Das Kino retten muss Chantal nach der Rettung der Märchenwelt nicht. Ein paar Millionen Filmtickets darf sie dagegen gerne verkaufen. 29 Millionen Besuche für die bisherigen Filme von Bora Dagtekin sind noch lange nicht genug.
Thomas Schultze