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Matteo Garrone über „Ich Capitano“: „Ich bin Maler“

Gleich zwei Preise konnte „Ich Capitano“ auf der Mostra gewinnen, den Regiepreis und den Nachwuchspreis für Seydou Starr. Zudem sicherte er sich eine Oscarnominierung. Kurz vor dem deutschen Kinostart sprachen wir mit Regisseur und Autor Matteo Garrone. 

(Credit: X Verleih)

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Sie haben eine tolle Reise hinter sich mit „Ich Capitano“. Was hat Sie in den vergangenen sechs Monaten am meisten berührt?

Matteo Garrone: Es war ein Wirbelwind. Die Wahnsinnsreise wäre natürlich nicht möglich gewesen ohne Venedig. Die Preise dort waren der erste Schritt. Das verhalf dem Film in Italien für enorme Sichtbarkeit. Sehr beeindruckend war das Treffen mit dem Papst, nachdem ihm „Ich Capitano“ im Vatikan gezeigt worden war. Das gab dem Film zusätzlichen Auftrieb. Und dann natürlich die Nominierungen für den Golden Globe und den Oscar. Aber ich muss sagen, dass mir am wertvollsten die Beziehung ist, die der Film mit dem Publikum aufbaut, die Reaktion der Zuschauer überall in Italien, wo wir in 75 Kinos vertreten waren. Das war ein wunderbarer Lohn für ein hartes Stück Arbeit. 

Haben Sie „Ich Capitano“ denn auch schon in Afrika zeigen können.

Matteo Garrone: Noch nicht. Darauf freue ich mich besonders. In diesem Monat wird es so weit sein, in diesem Monat noch werden wir den Film im Senegal zeigen, in dem Dorf, wo wir gedreht haben, wo sich viele Jugendliche aufhalten und wo es kein Kino gibt, an dem die Reise begann. Wir werden in einer Karawane anreisen, es wird ein echtes Ereignis werden, das letzte Kapitel dieser Reise. Dann werde ich zu meiner Arbeit zurückkehren. 

Das klingt aufregend.

Matteo Garrone: Ich bin auch sehr aufgeregt. Ich weiß, dass der Film dank Pathe bereits in 20 afrikanischen Ländern ausgewertet wurde. Und ich habe ein Video gesehen, das bei einer Vorführung von „Ich Capitano“ in einem Auto gemacht wurde, in dem man Schüler sieht, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Film auf einer Leinwand gesehen haben. Es war kurios, sich das Video anzusehen, weil ihre Reaktionen so unerwartet waren. Die Szene mit der fliegenden Frau hatte ich als erhebenden Moment ausgedacht, sehr lyrisch, aber auch dramatisch und tragisch, weil ihre Seele die Erde verlässt. Sie stirbt. Aber sie haben laut gelacht, fanden es unglaublich lustig. Sie haben überhaupt sehr viel gelacht, weil es für sie etwas Magisches war.

Wie gehen Sie damit um, wenn Ihre Bilder völlig anders gelesen werden als von Ihnen beabsichtigt?

Matteo Garrone: Wenn ich einen Film mit der Öffentlichkeit teile, gehört er nicht mehr mir. Ich mag es, wenn das Kino die Perspektive ändern kann und nicht vorhersehbar ist. Und ich mag es auch, dass ein Bild eine andere Art und Weise haben kann, Emotionen zu vermitteln. Es kann ganz anders wirken, als man es sich vorgestellt hat. Das ist das Wichtigste für einen Künstler. Man hat etwas erschaffen, das frei gelesen werden kann. Man kann den Film auf viele verschiedene Arten erleben, und jede davon ist gleich wahr und gleich wahrhaftig.  

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Matteo Garrone gewinnt den Silbernen Löwen für die beste Regie (Credit: Mostra Venedig)

Worum war es Ihnen gegangen, als Sie den Film gemacht haben?

Matteo Garrone: Wir wollten einen Film machen, in dem es um das Erwachsenwerden geht. Es ist ein Abenteuer. Es ist ein Roadmovie. Er gibt dem Zuschauer ein emotionales Erlebnis, man soll mit dem Gesehenen verschmelzen, man soll vergessen, dass wir eine Kamera aufgestellt und die Geschichte inszeniert haben. Die Zuschauer machen die Erfahrung durch die Augen von Seydou. Wir haben diesen Film nicht gemacht, um eine Antwort auf ein komplexes Problem zu geben. Es ist kein Thesenfilm. Es ist eine Reise, eine epische Reise. Ich habe also nichts Bestimmtes erwartet. Meine Absicht war einfach, das Publikum zu berühren, es zum Lachen und zum Weinen zu bringen. Das Publikum macht die Reise mit. Wir erleben dieses Abenteuer mit den beiden Jungen. Die Darstellungen aller Schauspieler, aber besonders von Moustapha und Seydou ist so rein, so intensiv, dass sie dem Publikum die Möglichkeit geben, sich sofort in sie einzufühlen. Zum ersten Mal in meiner Karriere habe ich einen Film gemacht, in dem es einen Helden ohne jede dunkle Seite gibt. Das macht „Ich Capitano“ sehr zugänglich.

Stimmt. Die Struktur ist ganz simpel, sehr klassisch…

Matteo Garrone: Es ist eine moderne Odyssee. Das ist sehr berührend. Und es spricht sich herum. Wir hatten großartige Mundpropaganda, überall, wo wir hinkamen, flogen dem Film die Herzen der Zuschauer zu. Wir haben den Film überall auf der Welt gezeigt. Und es war egal, wo wir waren. Wenn ich Seydou nach dem Film auf die Bühne holte, haben die Menschen immer gejubelt, sie sprangen auf und haben geklatscht. Für mich war das ein völlig neues Erlebnis, ich kannte so etwas noch nicht. Für mich bedeutet das, dass das Publikum diese Jungs in ihr Herz geschlossen haben. 

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Ein höllischer Marsch durch die Sahara ist nur eines der Hindernisse, die die zwei Helden von „Ich Capitano“ zu überwinden haben (Foto: X Verleih)

Wer ist dieses Publikum?

Matteo Garrone: Mir ist es wichtig, dass junge Menschen diesen Film sehen. Ich möchte, dass man ihn an Schulen zeigt. Wenn ich richtig informiert bin, hat der Verleih das in Deutschland bereits intensiv in die Wege geleitet. Das ist sehr wichtig. Die Jugend geht nicht mehr so gern von sich aus ins Kino. Ich habe den Eindruck, sie finden das nicht mehr so interessant. Zumindest sagen sie das. Aber wenn sie „Ich Capitano“ sehen, mit seinen beiden Helden in ihrem Alter, mit ihren Wünschen und Träumen, dann springt der Funke gleich über. Sie erkennen, dass der Film ganz nah dran ist an ihrem Empfinden. Und auf einmal sehen sie Themen wie die Flüchtlingsproblematik, die Versuche, afrikanischer Jugendlicher, sich in Europa ihre Träume zu erfüllen, nicht mehr nur als Schlagzeile oder Statistik in der Zeitung. Hinter den Statistiken verbergen sich echte Menschen, tragische Schicksale. Es ist wichtig, dass Jugendliche den Film sehen. Die Jugend ist unsere Zukunft. In Italien haben wir 900.000 Tickets verkauft. 20 Prozent haben wir mit Schulvorführungen erzielt. Und in Frankreich war es genauso. 

Sie erzählen die Geschichte eines Abenteuers. Sie haben selbst erstmals in Afrika gedreht. War denn der Dreh für Sie ebenfalls ein Abenteuer?

Matteo Garrone: Auf jeden Fall. Wenn man einen Film macht, der so schwierig ist, gibt es immer Momente, vor allem wenn es viel Action gibt, in denen man in Gefahr ist, wissen Sie? Es gibt Szenen wie die im Jeep oder in der Wüste oder auf dem Boot, wo wir oft das Risiko eingegangen sind, einen Unfall zu bauen. Das war schwierig und anstrengend, nervenaufreibend. Aber wir hatten immer das Gefühl, dass es sich lohnt, dass wir einen besonderen Film drehen. Der Film gewann an Tiefe und Bedeutung, weil man diese Spannung nutzen und der Film immer intensiver werden konnte. Es war auch besonders, dass wir viele Rollen mit echten Refugees und Migranten besetzt haben. 

Ihre Filme sind immer ein besonderes Erlebnis. Sie tragen alle ihre unverkennbare Handschrift und doch ist jeder wieder völlig anders. Diesmal haben Sie nicht zuletzt erstmals Italien hinter sich gelassen und haben in einem anderen Kulturkreis gedreht.

Matteo Garrone: Das stimmt, aber auch, wenn ich in Italien drehe, mache ich doch keine Filme explizit über Italien. Ich erzähle Geschichten über Menschen. Das ist mir wichtig. Wir rücken die Figuren in den Mittelpunkt, ihre Konflikte und Kämpfe. Ich will etwas über das Leben erzählen, ganz universell, nicht eingeengt von Staatsgrenzen. Mir geht es darum, Beziehungen zu den Figuren aufzubauen, ihre Probleme zu meinen zu machen, mich mit ihnen in ihr persönliches Labyrinth zu begeben und dadurch in eine neue Welt einzutauchen. Ich verstehe mich dabei weniger als Geschichtenerzähler, wissen Sie. Das geschriebene Wort ist nicht so mein Ding. Ich bin ein Maler, ich denke in Bildern und Stimmungen. So nähere ich mich meinen Figuren. Das war bei meinen früheren Filmen so, das war auch bei „Ich Capitano“ so. 

Wenn Sie auf die lange Reise zurückblicken, die Sie mit „Ich Capitano“ gemacht haben, worauf sind Sie am meisten stolz?

Matteo Garrone: Ich bin tatsächlich sehr stolz und glücklich, dass ich den Film gemacht habe, weil ich den Eindruck habe, dass ich denen einen Stimme gegeben habe, die sonst keine haben, ohne sie für meinen Film auszunutzen. Ich wollte „Ich Capitano“ wirklich gemeinsam mit meinen Schauspielern machen, auf einer Augenhöhe. Ich hatte Sorge, ich könnte sie enttäuschen. Aber sie sind glücklich. Und sind selbst stolz darauf, dass es den Film gibt und sie der Welt ihre Sicht der Dinge zeigen konnten. Das ist entscheidend, weil es dazu beiträgt, dass wir als Zuschauer diese Tragödie ebenfalls aus einer neuen Perspektive sehen können.  

Das Gespräch führte Thomas Schultze.