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Victor Kossakowsky zu „Architecton“: „Kino soll ein Erlebnis sein“

Nach seinem Publikumshit „Gunda“ kehrte der russische Dokumentarfilmer Victor Kossakowsky in diesem Jahr mit „Architecton“ in den Wettbewerb der Berlinale zurück. Jetzt kommt seine außerordentliche Betrachtung über die Dinge, die wir Menschen bauen, im Verleih von Neue Visionen ins Kino.

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Victor Kossakowsky (r.) greift selbst in die Handlung von „Architecton“ ein (Credit: Neue Visionen Filmverleih)

Wussten Sie schon, was für ein Film herauskommen würde, als Sie mit der Arbeit an „Architecton“ begonnen haben?

Victor Kossakowsky: Ich ziehe es vor, von meinen Filmen komplett verändert zu werden. Wenn ich schon weiß, was ich sagen will, fange ich überhaupt nicht erst an. Ich will Filme machen über Dinge, die ich nicht verstehe, die mir Fragen stellen. Wenn ich etwas nicht erstehe und den Eindruck habe, dass ich ein veränderter Mensch sein werde, wenn ich diese Reise abschließe, wenn es etwas Neues für mich ist, dann interessiert es mich als Filmemacher. Dokumentarfilme, deren Filmemacher eine Agenda haben und nach Wegen suchen, dafür Bilder zu finden, sind überhaupt nicht meine Sache. 

Aber haben Sie eine Maßgabe, was Sie machen wollen?

Victor Kossakowsky: Meine einzige Maßgabe ist, dass ich etwas Eindrucksvolles schaffen will. Kino soll ein Erlebnis sein, auch Dokumentarfilme. Man geht ins Kino und sagt: WOW! Das habe ich ja noch nie gesehen. Ich mag es nicht, wenn Leute im Dokumentarkino in die Kamera reden und Ideen ausdrücken. Redende Köpfe kann ich nicht ausstehen, bei mir wird man nur im Ausnahmefall Interviewsituationen erleben. In „Architecton“ habe ich eine Ausnahme gemacht, ziemlich am Ende des Films. Die Bilder sollen reden, sollen für sich selbst stehen. Ich will mein Publikum staunen lassen, will ihm Bilder zeigen, das es nicht erwartet. Das ist entscheidend für mich. 

Und „Architecton“ hat Sie in der Weise verändert, wie Sie eingangs gesagt haben?

Victor Kossakowsky: Ich war ein anderer Mensch zu Beginn der Arbeit als danach. Der Film hat mich komplett verändert. Hier ist es sogar noch komplizierter!

Wie das?

Victor Kossakowsky: Anfangs hatte ich vor, eine Komödie zu machen. Ich finde den Gedanken urkomisch, dass man sieben Jahre studiert, um Architekt zu werden, weil man lernen will, wie man etwas Schönes erschafft. Dann ist man fertig nach dieser langen, entbehrungsreichen Zeit und beginnt zu arbeiten und bekommt Aufträge, man arbeitet mit riesigen Teams. Und dann muss man nur potthässliche Gebäude aus Zement erschaffen. Auf dem Papier zeichnet man etwas Großartiges, und wenn es dann fertig ist, will man es am liebsten gleich wieder in die Tonne treten. Jedes Kind kann mit Lego etwas Beeindruckenderes erschaffen. Was ist mit dir passiert? Warum hast du sieben Jahre lang studiert, um dann so einen Bockmist zu machen? Was ist aus deinem Traum geworden, Architekt zu werden, weil man großartige Gebäude schaffen wollte? Warum sind unsere Städte so langweilig und gesichtslos? 

Warum ist „Architecton“ dann nicht die gedachte Komödie geworden?

Victor Kossakowsky: Ich habe mich dann mit Architekten unterhalten und festgestellt, dass es gar nicht lustig ist, dass es eine Tragödie ist, bestenfalls eine Tragikomödie. Ihnen sind die Hände gebunden. Es hängt von den Auftraggebern ab, dem Geld und der Zeit, den Bedürfnissen der Öffentlichkeit. Mit Idealismus kommt man dagegen nicht an. Sie stehen einfach nur im Dienst von Menschen mit Geld und Macht. Das ließ mich schon einmal anders an den Film herangehen. Dann kam auch noch die Pandemie, und das Drehbuch änderte sich noch einmal radikal. Die Situation war einfach völlig verändert. Und dann begann der Krieg in der Ukraine. Damit hat sich noch einmal alles geändert. Mir war klar: Jetzt ist nicht die Zeit für etwas Lustiges, für eine Komödie. Jetzt ist die Zeit für eine ernsthafte Auseinandersetzung. 

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„Architecton“ von Victor Kossakovsky (Credit: Neue Visionen)

Was Sie gerade über Architekten erzählen, lässt sich eins zu eins auf die Filmindustrie übertragen.

Victor Kossakowsky: Das ist das Dilemma! Man versucht, etwas Schönes zu erschaffen, und dann wollen die Kinos den Film nicht spielen, weil sie Geld machen wollen und nicht genug Popcorn damit verkaufen. 

Dabei machen Sie doch Filme, mit denen Sie das Publikum ansprechen und erstaunen wollen. Natürlich sprechen Sie auch den Intellekt an, aber „Architecton“ ist auch eine sehr handfeste, emotionale Erfahrung. 

Victor Kossakowsky: Ich lege meine Hand nicht dafür ins Feuer, aber ich glaube, es war Dostojewski, der nach acht Jahren im Straflager mit der Arbeit an seinen wichtigsten Büchern begann und dann gefragt wurde, warum er so viel über das Leben wisse. Er sagte: Ich weiß wenigstens zehnmal so viel. Und wenn ich nicht zehnmal mehr über die Dinge weiß, als ich niederschreiben will, fange ich gar nicht erst an. Ich bin nicht so vermessen, mich mit Dostojewski zu vergleichen. Aber wenn ich einen Film über Architektur mache, dann weiß ich sehr viel mehr darüber als ich zeigen kann. Deshalb funktioniert es. Es ist wie bei einem Eisberg. Der Film ist die Spitze des Eisbergs, aber unter dem Wasser ist noch einmal neunmal so viel. Ich muss das unter dem Wasser kennen und wissen, um das über dem Wasser zeigen zu können. Als ich für eine frühere Arbeit einmal einen Eisberg gefilmt habe, hat man mir beigebracht, dass das, was sich unter dem Wasser befindet, viel großartiger und spannender ist als das, was man sieht. Auf den unteren Teil kommt es an. 

Darf man sagen, dass es sich bei „Architecton“ um einen persönlichen Film handelt? Am Ende des Films greifen Sie selbst in den Film ein.

Victor Kossakowsky: Ich hatte den Eindruck, dass es die richtige Entscheidung war. Aber ich bereue es. Ich glaube, es war ein Fehler. Aber ich stehe dazu!

Das Gespräch führte Thomas Schultze.