„Zwischen uns das Leben“ war ein Highlight in Venedig. Und ist jetzt unbedingt eine Entdeckung wert, wenn der Film in den deutschen Kinos anläuft. Bei SPOT haben wir uns gefreut über ein schönes Gespräch mit Regisseur Stéphane Brizé.
Bei der Deutschlandpremiere in Hamburg (v.l.): Stéphane Brizé (Regisseur), Valérie Lübken (Generalkonsulin von Frankreich, Direktorin des Institut Français Hamburg), Fabien Arséguel (Alamode Film), Mathieu Dolenc (MOIN Filmförderung) (Credit: Heike Blenk/Alamode Film)
Sie haben sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht mit kämpferischen und sehr politischen Filmen wie „En guerre“ oder „La loi du marché“. „Zwischen uns das Leben“ ist völlig anders. Wie kam es zu diesem Tempo- und Stimmungswechsel?
Stéphane Brizé: Das ist ganz interessant: Als ich damals „La loi du marché“ gemacht habe, hatte ich vorher fünf Filme gedreht, in denen es um ganz andere Sachen ging, die auch Liebesgeschichten waren. Damals wurden mir Fragen gestellt: Wie kommt es, dass Sie jetzt plötzlich einen politischen Film drehen? Sie haben doch sonst immer Filme gedreht, die viel intimer waren? Nachdem ich nun drei eher politische Filme gemacht habe, die durchaus erfolgreich waren und von vielen Leuten gesehen wurden, stellt man mir plötzlich wieder die Frage: Ach, wie kommt es eigentlich, dass Sie jetzt einen Film drehen, der so intim ist, in dem es um Liebe geht? Insgesamt habe ich mehr Filme gemacht, in denen es um die Liebe geht, als politische Filme.
In diese Falle bin ich also auch gleich getappt…
Stéphane Brizé: Wir bestehen als Menschen aus verschiedensten Komponenten, und natürlich habe ich einen politischen Blick. Aber ich habe auch etwas Melancholisches. Mich interessieren Fragen, die um die Liebe kreisen. All das wohnt in mir, zusammen. Für mich ist es wichtig, die Freiheit zu haben, unterschiedliche Dinge machen, unterschiedliche Räume betreten zu können. Diese Freiheit ist für mich absolut essenziell. Ich kann Ihnen eine amüsante Anekdote erzählen: Ich habe neulich mit ChatCPT gespielt und die KI aufgefordert, eine Szene zu schreiben, wie Stéphane Brizé sie schreiben würde. Sie war zwar nicht sonderlich gut, sie war aber von politischem Inhalt. Als sei das der einzige Teil von mir, als gäbe es nur das. Ich muss den anderen Teil von mir, der ebenfalls sehr wichtig ist, aber auch in mir leben lassen.
Wie stark ist „Zwischen uns das Leben“ ein persönlicher Film, wie nahe steht Ihnen die Hauptfigur? Ein Schauspieler, ein Künstler in der Krise?
Stéphane Brizé: Letztendlich geht es um Fragen, die uns als Menschen alle beschäftigen. Gerade, wenn wir das Gefühl haben, die Mitte des Lebens schon überschritten zu haben. Haben wir immer die richtige Wahl getroffen, immer das getan, was wir wollten, gibt es vielleicht etwas, was wir bereuen, waren wir am richtigen Ort, waren wir mit den richtigen Menschen zusammen? Das sind Fragen, die sich beide stellen, Alice und Mathieu. Dass Mathieu Schauspieler ist, spielt eigentlich keine entscheidende Rolle. Er stellt sich ja nicht gerade typische Schauspielerfragen. Weil er Schauspieler ist, hat er gerade dieses Theaterstück verlassen, das er machen wollte. Wäre er Arzt gewesen, hätte er vermutlich das Krankenhaus, in dem er gearbeitet hat, verlassen. Ich fand es nur poetischer, dass er Schauspieler ist.
Sie haben das Drehbuch mit Marie Drucker zusammengeschrieben, die in Ihrem Film „Un autre monde“ mitgespielt hat. Wie kam es dazu? War es Ihnen wichtig, dass eine Frau am Drehbuch mitschreibt?
Stéphane Brizé: Es war wichtig, dass eine Frau am Drehbuch mitschreibt. Es war auch wichtig, dass man sich mit einer sehr großen Offenheit und Ehrlichkeit begegnet, wie das zwischen Marie und mir der Fall ist. Jetzt könnte man natürlich denken, Marie hat die weibliche Figur geschrieben, ich die männliche. Vielleicht war das auch die ursprüngliche Ausgangsidee von uns. Aber am Ende war es komplexer. Viel wichtiger war, dass ich meinen weiblichen Teil auch ausleben und ihn Marie zeigen konnte, Marie wiederum konnte ihren männlichen Teil mir gegenüber offenbaren. Wir mussten keine Scham voreinander haben. Wichtig war auch, dass, wenn man von Männern und Frauen und ihren Liebesgeschichten erzählt, man überhaupt kein Problem damit hat, sich auch sehr unvorteilhafte Dinge zu erzählen, auch sehr unvorteilhafte Dinge zu offenbaren, was für ein Drehbuch sehr viel interessanter ist. Natürlich könnte man alles immer nur sehr positiv darstellen. Aber gerade, dass wir diese dunkleren Seiten dem jeweils anderen offenbart haben, was wiederum in das Drehbuch eingeflossen ist, macht die Geschichte besonders interessant.
Guillaume Canet, der selbst als Regisseur arbeitet, spielt die männliche Hauptrolle. Macht es die Arbeit mit einem Schauspieler leichter oder komplizierter?
Stéphane Brizé: Wenn Guillaume an mein Set kam, war er nur Schauspieler, mit all den Ängsten und all den Fragen, die man sich als Schauspieler stellt. Nicht ein einziges Mal hat er durchblicken lassen, dass er auch Regisseur ist. Er war einfach nur Schauspieler. Zum Glück! Denn die Aufgabe eines Regisseurs ist letztendlich, seinen Standpunkt durchzusetzen. Die Aufgabe eines Schauspielers ist es, den Standpunkt eines Regisseurs zu akzeptieren und zu spielen. Hätte sich Guillaume jetzt immer wie ein Regisseur verhalten und mit mir wie ein Regisseur diskutiert, hätte ich mit ihm in keiner Weise an meinem Set umgehen können.
Guillaume Canet und Alba Rohrwacher sind zwei Schauspieler, die man vielleicht nicht auf den ersten Blick als Liebespaar sieht. Was gab Ihnen die Zuversicht, dass sie genau die richtigen sein werden für die Rollen von Mathieu und Alice?
Stéphane Brizé: Da muss ich zurückfragen: Warum glauben Sie, dass man die beiden nicht sofort als Paar sieht?
Weil Guillaume Canet in Frankreich auch für großes Mainstream-Kino steht, Alba Rohrwacher eher im intellektuellen Arthouse zuhause ist…
Stéphane Brizé: Da haben Sie schon meine Antwort: Genau deswegen habe ich sie besetzt. Sie stehen für etwas unterschiedliche Universen, für zwei Kinowelten, die vielleicht zu unterschiedlich sind, um zusammenzufinden. Das stimmt. Deswegen habe ich die beiden ausgesucht.
Der Film zeichnet sich durch eine gewisse Zurückhaltung aus, durch das, was nicht gesagt und gezeigt wird. Das ist eigentlich eine verlorene Tugend im Kino von heute. Wie sicher waren Sie in der Herangehensweise, dass genau das funktionieren würde?
Stéphane Brizé: Ich weiß nicht, ob Mut dazugehört, das so zu machen. Ich versuche immer den Moment zu finden, der einfach richtig für die Geschichte ist. Ich fand das war die richtige Form, die Geschichte zu erzählen, dass sie am echtesten wirkt. Man könnte sagen, dass der Film lang oder zu lang ist. Ich würde sagen, die Welt ist zu schnell. Mein Film mag zu lang erscheinen, weil wir mit der Zeit so nicht mehr umgehen, weil alles viel zu schnell geworden ist. In einer Welt, in der alles zu schnell geht, verlieren wir eigentlich den Rhythmus, den wir als Menschen haben. Ich würde sagen, dieser Film erzählt eigentlich mehr aus unserem natürlichen Rhythmus. Aber wir machen alles viel zu schnell und zu hektisch, weil wir damit auch unsere Ängste maskieren, gerade wenn es ums Zuhören geht. Das Zuhören ist sehr wichtig, da entstehen eben auch Momente, in denen nichts passiert, vermeintlich tote Momente. Da fehlt eine gewisse Form, sich selbst zu hinterfragen, wenn man sich die Zeit dafür nicht mehr nimmt.
Umgehauen hat mich die Szene mit Lucette, die in die Kamera erzählt und zu ihrem Leben steht. Wie kam es zu dieser begnadeten Idee?
Stéphane Brizé: Die Szene hat die Bedeutung einer Kathedrale, der Krone, die alles zusammenhält. In einem Bauwerk ist dies oft gar kein großes Stück, aber ohne dieses würde alles zusammenstürzen. Was wichtig ist an dieser Figur: Lucette ist eine ganz einfache Frau, die keine Schauspielerin ist, die aus einem ganz einfachen Milieu stammt. Die plötzlich den Mut hat, zu etwas zu stehen, was sie ist, zu ihrem Anderssein. Alice wiederum hat den Mut, diese Frau zu bitten, das zu erzählen, und Mathieu ist, nachdem er das gesehen hat, nicht mehr derselbe. Es gibt einen Mathieu davor und einen Mathieu danach. Nachdem er das gesehen hat, was für einen Mut diese beiden Frauen hatten, muss er sich ebenfalls offenbaren. Gestehen, ein ganz normaler Typ zu sein, der das Theaterstück hingeschmissen hat, der ausgestiegen ist, der Schiss gehabt hat. Eigentlich tun sich die drei sehr gut. Deswegen ist diese Szene sehr wichtig für die gesamte Struktur des Films und auch für die Psyche der Figuren.
Das Gespräch führte Barbara Schuster