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Sean Baker zu „Anora“: „Kinos kommen zuerst“

Goldene Palme in Cannes, Sensationsschnitt am ersten Wochenende in den US-Kinos: „Anora“ ist der aktuelle Oscarkandidat Nummer eins. Und kommt kommende Woche im Verleih von Universal in die deutschen Kinos. Wir haben uns mit Regisseur Sean Baker getroffen.

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„Anora“-Regisseur Sean Baker (Credit: Universal)

Sie sind bekannt für eine besondere Arbeitsweise an Ihren Filmen. Inwiefern steht „Anora“ in dieser Tradition, inwiefern war Ihr Prozess diesmal anders?

Sean Baker: Ich hatte diesmal etwas mehr Geld zur Verfügung als in der Vergangenheit, vielleicht eine Million Dollar mehr als beispielsweise bei „The Florida Project“. Damit habe ich mir etwas mehr Zeit gekauft. Mehr Zeit für die Vorbereitung mit meinen Schauspielern. Wir hatten richtige Proben diesmal! Und natürlich habe ich diesmal zum ersten Mal durch die Bank primär mit erfahrenen professionellen Schauspielern gearbeitet, die in den Hauptrollen und erkennbaren Nebenrollen zu sehen sind. Normalerweise ist es ein Mix. Diesmal findet man Laien und Debütanten wirklich nur am Rand. Das hat meinen Prozess tatsächlich massiv beeinflusst. Es war eine tolle Erfahrung für mich. Viele Dinge mussten nicht lange erklärt oder verhandelt werden. Unentwegt wurden mir Ideen unterbreitet, ich musste nur zugreifen. Ihr Einsatz war vorbildlich. Mikey Madison? Jemand wie sie habe ich noch nie erlebt. Was sie alles gemacht hat, um ihre Figur noch echter zu machen, noch greifbarer, das war eine große Freude für mich. Es hat mich meine Rolle als Regisseur noch einmal überdenken lassen. Ich arbeite gerne mit nicht professionellen Schauspielern, aber ich denke, dass ich künftig weiter mit Profis in den Hauptrollen arbeiten will. 

Wie in all Ihren Filmen haben Sie auch „Anora“ an realen Drehorten gefilmt. Wie sehr nimmt das Einfluss auf die Umsetzung Ihres Drehbuchs?

Sean Baker: Der Dreh an echten Locations bedeutet mir alles. Sie lassen die Filme das werden, was sie ausmacht. In diesem Fall war es so, dass ich die Welt bereits ein bisschen kannte. Kissimmee in „The Florida Project“ oder Texas City in „Red Rocket“ musste ich mir erst erarbeiten. New York kenne ich, dort habe ich gelebt – zwar nicht Coney Island oder Brighton Beach, wo der Film spielt. Aber New York ist New York. Ich kenne den Akzent, ich kenne die Leute, ich kenne die Attitüde. Die Clubs waren alle echt, wir haben sie mit Leuten von dort gefüllt. Und wenn wir uns später auf die Straße begeben, um nach Ivan zu suchen, haben wir mitten auf dem Brighton Beach Blvd. gedreht, ein bisschen im Stil von „Candid Camera“, mit versteckter Kamera. Die Schauspieler hatten drahtlose Mikros am Körper, wir haben durch Glas und Fenster gedreht, wenn sie in Läden und Restaurants drehen, um zu fragen, ob man diesen Jungen gesehen hat. Die Erlaubnis haben wir uns danach geholt. Das heißt, dass alle Reaktionen echt sind. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, jemals in einem Studioset zu drehen. Wo wäre da der Spaß?

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Sean Baker (r.) und Kameramann Drew Daniels am Set von „Anora“ (Credit: Universal)

Nach dem Gewinn der Goldenen Palme haben Sie in der Pressekonferenz betont, wie wichtig es Ihnen sei, dass ein Film wie „Anora“ eine solche Wertschätzung bei einem Festival erfahre, weil Sie auf diesem Weg dazu beitragen können, dass das Kino ein vitaler Ort bleibt.

Sean Baker: Kino gehen mir über alles. Wenn ich sie unterstützen kann, werde ich das tun. Ich mache meine Filme für das Kino. Kinos kommen zuerst. Das Auswertungsfenster ist mir wichtig. Als Filmemacher mache ich das den Verleihern meiner Filme immer klipp und klar. Das gibt es kein Vertun. Aber es ist ein Kampf. Streaming nimmt immer mehr Raum ein, Kinos werden ignoriert. In den USA müssen unabhängig geführte Häuser buchstäblich täglich schließen, Mom-and-Pop-Kinos. Ich verfolge das auf meinem Instagram mit, und es setzt mir emotional zu. Es ist deprimierend. 

Was kann man Ihrer Ansicht nach machen?

Sean Baker: Dass wir Filmemacher uns stark machen müssen für Kinos, halte ich für selbstverständlich. Wir müssen klarmachen, dass wir wollen, dass unsere Arbeiten auf diese Weise gezeigt werden. Aber das reicht noch nicht. Das Publikum muss daran erinnert werden, was für ein einzigartiges, besonderes Erlebnis ein Kinobesuch ist. Während Covid haben das viele Menschen verlernt. Sie haben vergessen, wie magisch es ist, einen Film umgeben von anderen Menschen zu erleben. Deshalb noch einmal ganz klar und laut. Wir haben „Anora“ fürs Kino gemacht. Das betrifft die technische Seite: Wir haben mit Film gedreht. Was mein Kameramann Drew Daniels aus unserem niedrigen Budget herausgeholt hat, ist das Äquivalent dessen, wofür Hollywood 50 Millionen Dollar ausgeben würde. Und bei den Vorführungen vor Publikum, die ich miterlebt habe, geht die Rechnung auf. Die Lacher sind ansteckend, das Drama trifft die Menschen ins Herz. Das ist doch das, was man im Kino erleben will. Zuhause auf der Couch ist es einfach ein anderes Erlebnis. Das steht fest. 

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Sean Baker am Set von „Anora“ (Credit: Universal)

Sollten Filmemacher dann nicht auch noch mehr machen, um die Menschen ins Kino zurückzuholen? Ruben Östlund geht so weit zu sagen, dass schwedische Regisseure nur dann Förderung erhalten sollen, wenn sie sich bereiterklären, ihren Film auf einer Premierentour durchs Land zu begleiten…

Sean Baker: Ich bin kein Freund von Verpflichtungen. Aber ich bin ein Freund der Idee, mit neuen Filmen auf Reisen zu gehen und den Menschen ein besonderes Erlebnis zu bieten. Alles, was nötig ist, um diese Kunstform am Leben und vital zu halten! Ich finde Ruben übrigens supercool. Als wir die Goldene Palme gewannen, schickte er mir umgehend ein Foto von sich und seiner Frau, wie sie den Daumen nach oben halten. 

Können Sie schon sagen, was sich für Sie verändert hat seit dem Gewinn der Goldenen Palme?

Sean Baker: Puh, alles seither war ein Wirbelwind an Emotionen. Ich muss es wirklich erst verarbeiten. Ich kann nur bestimmt sagen: Ich bin glücklich, es ist eine wunderbare Sache. Mal sehen, was es bedeutet. Ich hoffe, dass sich für meine Besetzung und meine Crew viele Türen öffnen, neue Möglichkeiten ergeben. Man fragt mich jetzt oft, ob ich den nächsten Schritt gehen und einen Film für ein Studio machen will. Meine Antwort ist sehr bestimmt: Nein, das werde ich nicht. Warum sollte ich? Im Gegenteil! Der Gewinn der Goldenen Palme erlaubt es mir, weiter die Filme machen zu können, wie ich es für richtig halte. Und das heißt, dass ich unabhängig bleiben und mir nicht reinreden lassen werde. In der Zeit, in der wir leben, ist es sehr schwierig geworden in den USA, unabhängige Filme finanziert zu bekommen, speziell bei den nicht allzu populären Themen, die mich interessieren, und meiner Weigerung, populäre Schauspieler zu besetzen. Ich könnte, wenn ich wollte. Aber noch einmal: Warum sollte ich? Ich schließe es nicht aus, ich habe nichts gegen Filmstars. Aber es müsste passen. Und aktuell sehe ich keinen Bedarf. 

Das Gespräch führte Thomas Schultze.