Die renommierte österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann spricht mit SPOT über ihren neuen Dokumentarfilm „Favoriten“, der auf der Berlinale Weltpremiere feierte, die Diagonale eröffnete und gerade beim Hong Kong International Film Festival als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde.
Wenn man ein Langzeitprojekt wie dieses beginnt, mit welcher Zielsetzung geht man ran? Wie sehr kann man schon wissen, was für ein Film das wird, ob das ein Film wird?
Ruth Beckermann: Gute Frage. Das weiß ich eigentlich bei keinem Film. Es ist immer aufregend und immer anders aufregend. Im Fall von „Favoriten“ wusste ich, dass ich über längere Zeit, fast drei Jahre lang, in dieser Klasse drehen möchte. Was da passiert, ob es fad wird, ob es spannend wird – das wusste ich nicht. Aber darauf muss man sich einlassen, wenn man so einen Film macht, überhaupt, wenn man auf die Art und Weise arbeitet, wie ich es tue. Ich habe im Jahr 2000 „homemad(e)“, einen Film über meine Straße und das Café gegenüber meiner Wohnung gedreht. Dann waren Wahlen und die FPÖ wurde so stark, dass sie in die Regierung kam. Das hat den Film völlig verändert. Es passiert bei fast jedem Projekt etwas, was mich selbst überrascht. Und was dem Film guttut. Für mich ist das Spannende am Dokumentarfilme machen, dass ich selbst überrascht werde. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die bei dokumentarischen Arbeiten vorab Interviews führen, sie verschriftlichen und dann versuchen, dieselbe Situation wieder herzustellen. Meist geht das nicht, und dann ist man enttäuscht. So zu arbeiten wäre mir zu fad. Ich habe das Privileg, dass ich über meine Arbeit viel lernen darf. Mit „Favoriten“ hatte ich das Glück, einen ganz neuen Teil von Wien und vom Leben kennenzulernen, dank der Kinder, dank Ilkay Idiskut.
Sie sind über 40 Jahre als Dokumentarfilmemacherin tätig. Warum hatten Sie jetzt, in diesem Altersabschnitt, das Bedürfnis, einen Blick auf das Schulsystem zu werfen? Und sind Sie dafür ganz gezielt in den Favoriten-Bezirk Wiens gegangen?
Ruth Beckermann: Wir haben uns einige Schulen angeschaut, alle in Bezirken mit hohem Migrationshintergrundanteil, weil ich eine Schule zeigen wollte, die typisch ist für europäische Großstädte. Ob Wien, Berlin, Paris, London… egal. Wir haben uns dann für die Volksschule Quellenstraße entschieden, die größte Grundschule Wiens. Dort gibt es kein einziges Kind, das zwei deutschsprachige Eltern hat. Ich wollte schauen, wie Kinder heute sind, wie Schule heute ist. Es ist lange her, als ich in dem Alter und in der Schule war. Die Gesellschaft hat sich vollkommen verändert, die Bevölkerung hat sich vollkommen verändert. Nur das Schulsystem hat sich leider kaum verändert und geht nicht auf die Bedürfnisse dieser heutigen Gesellschaft ein. Das ist ein großer Fehler. Der Film ist natürlich kein Pamphlet. Vielmehr wollte ich mit einer positiven Lehrperson zeigen, was die Mängel sind. Man spürt im Film, dass Ilkay durch ihre Energie und durch ihr Engagement sehr viel an Mangel überwindet.
War es schwierig, das Einverständnis der Schule zu bekommen?
Ruth Beckermann: Gar nicht. Der Direktor der Schule hat uns mit offenen Armen aufgenommen und uns auch einige Lehrpersonen empfohlen, die wir angeschaut haben, bevor wir uns für Ilkay Idiskut entschieden haben. Für Ilkay hat neben ihrer Persönlichkeit auch gesprochen, dass sie gerade eine erste Klasse hatte und wir somit wussten, dass sie diese noch drei Jahre unterrichten wird. Am Ende der ersten Klasse waren wir einige Male in der Schule und haben uns ihren Unterricht angeschaut. Ilkay hat sehr schnell verstanden, was und wie viel funktioniert und hat sich durch das Team mit Kamera und Ton nicht aus der Ruhe bringen lassen. Film ist brutal und nicht jeder kommt gut rüber. Mir war wichtig, dass die Lehrerin eine Ausstrahlung hat. Nach der Arbeit an „Favoriten“ kam mir mehrfach in den Sinn, dass Lehrer:innen eigentlich eine Schauspielausbildung haben sollten, weil sie Kinder beeindrucken müssen. Das kann Ilkay.
Ruth Beckermann und ihr Team von „Favoriten“ bei der Diagonale-Eröffnung (Credit: Miriam Raneburger)
Wie sehr darf man sich einbringen? Kann man bei einem so emotionalen Projekt mit Kindern immer die nötige journalistische Distanz wahren?
Ruth Beckermann: Ich bin keine Journalistin und wahre eigentlich nicht Distanz. Das ist nicht meine Art. Normalerweise greife ich bei meinen Filmen viel mehr ein, stehe neben der Kamera. Das ging bei „Favoriten“ nicht, weil wir sonst den Unterricht noch mehr gestört hätten. So kam ich auf die Idee, den Kindern die Handys zu geben, damit sie selbst filmen. Das brachte eine andere, inszeniertere Form rein, die mir gut gefiel, weil ich so die Kinder auch anders zeigen konnte als als Schüler:innen in der Klasse.
Welche Ideen haben Sie mit Kameramann Johannes Hammel bezüglich der visuellen Herangehensweise ausgearbeitet?
Ruth Beckermann: Das Konzept hieß: nah an den Kindern sein, dort sein, wo ein Kind spricht, auf Augenhöhe sein. Johannes war also immer auf einem Rollsessel unterwegs oder saß in der Hocke. Er und Tonkollege Andreas Hamza haben das gut hingekriegt, sie arbeiten sehr intuitiv. Die Herausforderung war, im On auf einem Kind zu sein, wenn es gerade spricht. Aus dem Off wäre schwierig gewesen, weil die meisten Kinder nicht klar gesprochen haben. Johannes und Andreas mussten also spüren, welches der 25 Kinder als nächstes sprechen würde.
„Einerseits gibt es diese Kamera-Geilheit, andererseits dieses Misstrauen.“
Ruth Beckermann
Wie hat sich für Sie die Drehzeit entwickelt? Zu welchem Zeitpunkt wussten Sie, dass der Film funktionieren würde?
Ruth Beckermann: Das wusste ich gleich. Es kann nur immer ein besserer oder schlechterer Film werden. Wenn man lange in einer Schulklasse dreht, ist klar, dass man einen Film bekommt. Ich hoffe immer, dass meine Filme was werden. Ich weiß nur nicht, ob sie gut werden und was für Schwierigkeiten es gibt, welche Umwege man machen muss. Denn oft muss man Umwege gehen und wirft einen ganzen Teil des Materials weg…
Schon jetzt wird „Favoriten“ wiederholt mit Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ verglichen. War Ihnen bewusst, dass Ihre Kollegin fast zeitgleich ebenfalls an einem Langzeit-Dokumentarfilm arbeitete? Hat das Ihre Arbeit beeinflusst?
Ruth Beckermann: Natürlich habe ich mir den Film angeschaut und finde ihn auch gut. „Herr Bachmann“ ist ein ganz anderer Film, mit älteren Kindern und einem Lehrer, der aus der 68er Generation stammt. Das Positive an unserem Film ist, dass wir die Gegenwart und die Zukunft zeigen.
Sie haben „Favoriten“ auf der Berlinale erstmals vorstellen können. Wie waren die Reaktionen? Worüber wollen die Menschen mit Ihnen reden?
Ruth Beckermann: Über all das, was Sie mich auch gefragt haben. Natürlich gibt es auch interessante Überraschungen. Typisch für Deutschland waren Fragen wie: „Wussten die Eltern, dass Sie die Kinder filmen?“ und: „Haben die Eltern das erlaubt?“ Klar, weil wir die Kinder drei Jahre lang heimlich gefilmt haben… Ich habe den Eindruck, dass dieses Misstrauen in den letzten Jahren stärker geworden ist. Einerseits gibt es diese Kamera-Geilheit, jeder will im Bild sein und auf Social Media, andererseits das Misstrauen, dass man jemandes Bild stiehlt. Das ist ein großer Widerspruch.
Glauben Sie, dass Ihr Film etwas bewirken wird, ein neues Bewusstsein schaffen vielleicht?
Ruth Beckermann: Ein Film kann nicht die Welt verändern. Das Problem ist, dass die Zusammensetzung der Klassen zu wenig durchmischt ist. In Wien ist es Gesetz, dass die Kinder möglichst nah zu ihrem Wohnhaus in die Schule gehen. Das war früher gut, doch heute ist die Gesellschaft, die Stadt einfach weniger homogen. Man müsste die Kinder eigentlich in andere Schulen führen. Das würde aber sicher von den Bobo-Eltern nicht gewollt werden.
Das Gespräch führte Barbara Schuster