Nikolaj Nikitin steht dem Tallinn Black Nights Film Festival seit Jahren mit Rat und Tat zur Seite; seit 2022 kuratiert er seine eigene Reihe, die Critics’ Picks. Darüber sprachen wir mit ihm wie allgemein über die Bedeutung des PÖFF und den Schwerpunkt auf dem deutschen Kino in der 28. Ausgabe, die seit 8. und noch bis zum 24. November läuft.
Wie toll, dass das 28. Tallinn Black Nights Film Festival mit einem deutschen Film gestartet ist, „Feste & Freunde“ von David Dietl.
Nikolaj Nikitin: Ich finde die Wahl auch sehr gelungen, gerade weil es kein strenges deutsches Arthouse ist, wie wir es in Tallinn natürlich auch gerne zeigen, sondern ein schöner erwachsener Film, der das internationale Publikum abholt und auf eine sehr kluge Art und Weise unterhält.
Standen Sie bei der Auswahl beratend zur Seite?
Nikolaj Nikitin: Mir liegt das Festival sehr am Herzen, und wenn ich helfen kann, dann mache ich das natürlich. Neben meiner eigenen Reihe in Tallinn stehe ich Festivalchefin Tiina Lokk schon längere Zeit beratend zur Seite – u.a. als Mitglieder der Auswahlkommission des Internationalen Wettbewerbs. Für „Feste & Freunde“ habe ich mich jedenfalls sehr eingesetzt, weil ich es gut fand, mal eine andere Seite des engagierten deutschen Kinos in Tallinn zu zeigen. Dass es die Eröffnung und eine Weltpremiere wurde, ist natürlich fantastisch.
Ist aber ganz anderes Kino als das, was Sie in den Critics‘ Picks zeigen, die Sie seit drei Jahren kuratieren. Wie macht sich die Reihe?
Nikolaj Nikitin: Ich bin sehr happy. Wenn ich mir das Line-up mit ein bisschen Distanz ansehe, finde ich, dass es das rundeste Programm bisher geworden ist. Es sind nicht nur zehn Filme, die ich gut finde, meine Top Ten, die mir ins Auge gestochen ist. Die Filme greifen auf sehr schöne Weise ineinander und sprechen miteinander. Die reduzierte Anzahl der Filme ermöglicht es dem Publikum und den anwesenden Vertretern aus der Branche, den Überblick zu bewahren und mit ein bisschen Glück die ganze Reihe zu sehen. Ich sehe das komplette Spektrum des Weltkinos abgebildet. Erstmals ist eine Produktion aus Bhutan vertreten, ein Filmland, über das wir noch sehr wenig wissen. Dazu kommen Filme aus Japan, Portugal, Kasachstan, Brasilien… Wir werfen ein großes, globales Netz aus in diesem Jahr!
Denken Sie, dass Sie mittlerweile eine erkennbare eigene Handschrift etablieren konnten?
Nikolaj Nikitin: Sagen wir so: Ich mache die Auswahl ja nicht für mich, aber die Reihe drückt sehr stark aus, was ich mir als spannend für ein interessiertes und aufgeschlossenes Publikum vorstelle, es ist eine in sich stimmige Auswahl, mit einem starken Fokus auf Genrekino mit Autorenhandschrift diesmal. Wenn man das Programm mit einer Klammer betrachtet, so sind der Eröffnungs- und der Abschlussfilm zwei schwarze Komödien. Das sagt mir zu: Angesichts der vielen Probleme und sich zuspitzender Situationen auf der Welt sollte das Kino auch wieder ein Ort der Zuflucht sein, in dem man für zwei Stunden eben auch einmal abschalten und vor allem mal richtig lachen kann. Das muss keine platte Klamotte sein, sondern kann auch auf amüsante, anspielungsreiche Weise geschehen.
Zumal man weiß, dass kein Genre schwieriger ist als die Komödie…
Nikolaj Nikitin: Genau, aber ist eben das Genre, das die Menschen zum Träumen animiert und wofür wir eigentlich ins Kino gehen. Nichts finde ich schöner, als wenn in einem vollen Kinosaal beherzt gelacht wird und die Menschen das Kino mit einer gewissen Leichtigkeit und Hoffnung verlassen. Beide Filme, „Dreaming of Lions“ von Paolo Marinou-Blanco und „The Brothers Kitaura” von Masaki Tsujino, nehmen das Publikum aber auch ganz schön ran, weil es in ihnen um das eine Thema geht, das die Menschen eigentlich gar nicht lustig finden: den Tod. Ersterer befasst sich mit Euthanasie, zweiterer mit Vatermord – laut Sigmund Freud „die Geburt der Kultur“. Mich fasziniert, wie es beiden Titeln gelingt, sich nicht von der Last ihrer Thematik erdrücken zu lassen, sondern dem Publikum Lachtränen in die Augen zu treiben. Das ist eine Art von Kino, die ich gerne unterstützen möchte. Kino, das einen ganz anderen Blick gestattet als das genormte Hollywoodkino, ohne dass der Unterhaltungswert leiden würde. Wer immer schon einen kasachischen „Rambo“ sehen wollte, dem lege ich „Moor“ von Adilkhan Yerzhanov sehr ans Herz. Genauso kann ich aber auch „The Body“ empfehlen, einen brillant geschriebenen Thriller aus Italien, oder besagten bhutanischen Beitrag, „I, the Song“, der übrigens vom Berlinale World Cinema Fund gefördert wurde. Aus Ecuador stammt der surrealistische Debütfilm „Fishgirl“ und aus Brasilien der sexuell aufgeladene „Streets of Glória“. Da unser Festival in Estland stattfindet, liegt mir auch das Kino aus den Nachbarländern sehr am Herzen: Litauen ist schwer im Kommen und wird in den Critics‘ Picks von „Jōhatsu“ vertreten. Und damit auch alle genannt sind: Aus Tschechien kommt „Nobody Likes Me“ und aus China/Kanada „Hani“.
Gibt es denn einen Leitsatz, den Sie nennen können?
Nikolaj Nikitin: Ganz profan: Das Weltkino lebt! Aller Widrigkeiten und Widerstände zum Trotz wird produziert, und wir können aufregende Stimmen vorstellen, die sich im internationalen Festivalzirkus etablieren werden.
Fiel die Kuratierung leicht?
Nikolaj Nikitin: Es fiel mir schwerer als bisher, ich musste intensiver suchen, mehr überlegen, abwarten und sehr genau abwägen – ich sah für die Auswahl fast 1.000 Titel – also ist es eine leichte Rechnung: 0,1 % haben es ins Programm geschafft. In den ersten beiden Jahren war das Angebot sehr viel reichhaltiger, was mit dem Post-Corona-Backlash wohl zu tun hatte, dass viele tolle Filme auf der Suche nach Premierenmöglichkeiten waren, die Festivals da aber noch deutlich schmalere Programme fuhren. Jetzt ist der Kampf um die Perlen wieder härter geworden. Umso stolzer bin ich auf die Auswahl für die Critics‘ Picks, alle Filme sind Weltpremieren, was nicht unwesentlich ist für ein A-Festival wie Tallinn. Als sich für mich Komödie und Genrekino als Trend herauskristallisierten, half mir das sehr gut, mich daran zu orientieren. Tatsächlich war ich dann sogar an einem Punkt, dass ich großartigen Titeln leider eine Absage erteilen musste, weil sie nicht passgenau für das Line-up gewesen wären. Less is more: Mir ist es lieber, wirklich jedem einzelnen Film die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Wie fügt sich Ihre Reihe in das generelle Angebot des Tallinn Black Nights Film Festivals? Und was macht die Black Nights generell zu einem so besonderen Festival?
Nikolaj Nikitin: Die Black Nights sind eines der jüngsten A-Festivals in der Riege der großen A-Festivals. Tallinn hat nicht das Volumen von Cannes, Venedig oder Berlin. Ganz Estland hat nicht mal die Hälfte der Einwohner, die Berlin vorzuweisen hat. Aber es ist ein wahnsinnig mutiges Festival, und es ist ein Festival unter der Leitung von Tiina Lokk, das sich mit Leib und Seele der Filmkunst verschrieben hat. Der Blick ist sehr kosmopolitisch, sehr global und politisch. Es gibt weniger regionale Einschränkungen als bei anderen Festivals. Die Critics‘ Picks sind eine Reihe, die sich im Geiste der Semaine de la Critique sieht, eingeführt in den Sechzigerjahren in Cannes, mittlerweile aber auch in Venedig, Locarno und Berlin zuhause. Sie fügt sich gut in das Restprogramm von Tallinn, wo es im Mittelpunkt einen Hauptwettbewerb gibt, dazu noch einen Debütwettbewerb und einen Wettbewerb für Produktionen aus den baltischen Ländern. Ich will Autorenfilme aus der ganzen Welt zeigen, wobei ich da aber nicht rigide oder elitär denke: Dazu können auch Genrefilme gehören, Komödien, wie man ja am diesjährigen Programm gut sieht. Tallinn zeichnet die große Liebe zum Kino aus, die besondere Jahreszeit mit den sehr kurzen Tagen, es ist Winter, deshalb der Name „Black Nights“. Das ist auch einer der Anreize, ins Kino zu gehen und der eisigen Kälte zu entfliehen, von Dunkel der Stadt Tallinn mitten hinein in die Helligkeit und Wärme des – oft vollen – Kinosaals.
Das Gespräch führte Thomas Schultze.