Am 5. Juli feiert „Wir für immer“ von Johannes Schmid in der Reihe Neues Deutsches Fernsehen des Filmfest München Weltpremiere. Über die Arbeit an dem feinen, fein beobachteten, mit feiner Farbkomposition und Lichtgestaltung versehenen Drama um ein Mutter-Sohn-Gespann in einem ungesunden Abhängigkeitsverhältnis, erzählt der Filmemacher im Interview.
„Wir für immer“. Der Titel kann positiv konnotiert gelesen werden, zum anderen negativ. Das spiegelt auch die Geschichte wider…
Johannes Schmid: „Wir für immer“ erzählt darüber, wie zwei Menschen erkennen, dass sie sich gegenseitig loslassen müssen. Im Prinzip geht es um eine umgedrehte Betreuungssituation. Meinem Bruder Thomas und mir war bei der Drehbuchentwicklung wichtig, dass unsere Geschichte auch eine gewisse Allgemeingültigkeit besitzt. Wir alle kommen früher oder später in die Situation, dass wir uns um ein Elternteil kümmern müssen, plötzlich in einer Verantwortung stehen und damit – ob bereits als Kind oder im Erwachsenenalter – Schwierigkeiten haben, diese zu tragen oder damit umzugehen. In „Wir für immer“ haben wir das zugespitzt und zeigen einen wirklich jungen Menschen, der in einer solchen Situation steckt. Mutter und Sohn leben in einem ungesunden Abhängigkeitsverhältnis, aus dem sich beide befreien müssen. Der Titel „Wir für immer“ drückt genau das aus: Man kann diese Aussage positiv hochhalten, andererseits als Fessel verstehen.
Und es ist gar nicht leicht, sich aus einem ungesunden Abhängigkeitsverhältnis zu lösen, wie Sie zeigen…
Johannes Schmid: Jann ist in diese Situation hingewachsen, damit aufgewachsen. Der Vater hat sich irgendwann aus der Verantwortung gezogen, oder konnte sie einfach nicht mehr tragen, hat den Sohn in diesem Konstrukt zurückgelassen. Jann kennt es nicht anders, als dass er für seine Mutter verantwortlich ist. Wir alle haben als Kinder und Jugendliche bestimmte Strukturen in unseren Familien erlernt. Sich von so tief verwurzelten Strukturen zu lösen, ist nicht einfach und damit kämpfen wir oft noch im Erwachsenenalter. In „Wir für immer“ zeigen wir das unterm Brennglas anhand eines jungen Menschen, dessen Mutter an einer psychischen Störung leidet.
„Dieses Gefühl zwischen Niedergeschlagenheit und Euphorie kennen wir zumindest ansatzweise aus unseren Berufen.”
Ihr Bruder, Schriftsteller Thomas Schmid, dessen „Blöde Mütze“ Sie bereits filmisch verarbeitet haben, hatte die Idee zu „Wir für immer“. Gemeinsam haben Sie dann das Drehbuch entwickelt und geschrieben. Ist der Stoff eine Familienangelegenheit?
Johannes Schmid: „Wir für immer“ ist ein persönlicher Film. Und natürlich hat er mit uns zu tun, wie jeder Stoff, jedes Projekt. Aber wir waren zum Glück in unserer Kindheit niemals mit solch krassen Problemen konfrontiert wie Jann im Film. Doch das Gefühl irgendwann im Leben in eine Verantwortung genommen worden zu sein, von der man in der Rückschau sagt, dass man sie lieber nicht hätte tragen wollen, das ist uns sicher nicht fremd. Eine große Herausforderung bim Drehbuchschreiben war, wie man über eine Frau mit bipolarer Störung schreibt. Wie man sich in so eine Figur hineindenkt. Da ging viel Recherche voraus, auch bezüglich der Medikamentierung. Diese Dinge mussten wir uns erarbeiten. Andererseits kennen wir dieses Gefühl zwischen Niedergeschlagenheit und totaler Euphorie zumindest ansatzweise aus unseren Berufen. Auch deshalb konnten wir uns da gut Hineinfantasieren, wie die Schere da emotional aufmachen kann.
Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Ihrem Bruder aus? Inwiefern hat sie sich auch unterschieden zur Arbeit an „Blöde Mütze“?
Johannes Schmid: Davon hat sie sich deutlich unterschieden. „Blöde Mütze“ haben wir nicht gemeinsam geschrieben. Von Thomas stammt der Roman, den ich damals für die Verfilmung gemeinsam mit Michael Demuth und meinem Produzenten Philipp Budweg adaptiert habe. Dabei haben wir uns auch in Details teilweise weit vom Buch wegentwickelt – wie das meist der Fall ist, wenn man eine Romanvorlage hat. Eine Romanvorlage muss man sich aneignen, damit sie als Film eine eigene Wertigkeit bekommt. Bei „Wir für immer“ gab es einen Treatment-Entwurf meines Bruders, den wir zunächst in einer intensiven Woche im Haus von Ingmar Bergman auf Farö weiterentwickelt haben. Dort können sich Filmschaffende für Residencys bewerben. Das hat ganz gut gepasst in dieser Abgeschiedenheit, die auch etwas Beklemmendes hat. Dann sind wir dazu übergegangen, uns die Szenenentwürfe hin- und herzuschicken. Thomas entwirft, ich bearbeite, er bearbeitet meine Überarbeitung. Irgendwann kamen dann der WDR und Lieblingsfilm dazu.
Aber sicherlich profitierten Sie beide davon, dass Sie hier auf gemeinsame Erfahrungen aus der Kindheit zurückgreifen konnten.
Johannes Schmid: Das Gute in unserer Zusammenarbeit ist, dass wir beide schätzen und wissen, was der andere kann. Wir sind uns der unterschiedlichen Qualitäten bewusst, fühlen uns nicht sofort angefasst und sind relativ frei für das, was der andere macht. Und ja, wir schöpfen aus einem Kosmos, auch geschmacklich, speisen die Geschichte aus ganz ähnlichen Erfahrungshaushalten. Wir können auf einen großen gemeinsamen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der die Basis schafft, der für uns beide Common Sense ist.
„Die Zusammenarbeit mit Andrea Hanke ist immer eine Freude.”
Dass Lieblingsfilm als Produktionsfirma dazukam, liegt auf der Hand. Lag es ebenso auf der Hand, dass „Wir für immer“ ein Fernsehfilm werden würde?
Johannes Schmid: Der Stoff war ursprünglich fürs Kino gedacht, hatte auch Drehbuchförderung vom FFF Bayern bekommen. Auf dem Weg konnten Produzent Philipp Budweg und wir Andrea Hanke vom WDR für den Stoff begeistern, die auch schon meine Peter Stamm-Verfilmung „Agnes“ betreut hatte. Dann kam Corona, es wurden Fördersitzungen eingestellt… Irgendwann kam der Punkt, an dem wir sagten: Eigentlich könnte „Wir für immer“ genauso stark als Fernsehfilm funktionieren in seiner Kammerspielartigkeit und Konzentration. Ich fand es eine interessante Herausforderung, weil ich noch nie einen Fernsehfilm gemacht hatte. Mir ging es um die Frage, wie ich den Stoff in der Qualität, die mir vorschwebt, unter den Rahmenbedingungen eines Fernsehfilms hinbekomme.
War es eine gute Erfahrung?
Johannes Schmid: Die Zusammenarbeit mit Andrea Hanke ist immer eine Freude und unterschied sich in keinster Weise von einem Kinoprojekt. Andrea ist für mich einer der Leuchttürme unter den deutschen Redakteur*innen. Aber klar, in der Produktion musste man dann schon gucken, wie man mit TV-Budget und 23 Drehtagen jongliert. Aber in allen Gewerken wurde sehr gut und sehr genau gearbeitet. Mir kam die Erfahrung im Kinderfilm sehr zugute, weil ich weiß, wie man unter hohem Zeitdruck extrem gut vorbereitet sein muss, um die Dinge hinzukriegen. „Wir für immer“ war, was den Zeitdruck betrifft, sicherlich nicht mehr Stress als ein „Geschichten vom Franz“-Film. Wir hatten einen hohen Anspruch, auch optisch, an die Ausstattung, an die Bildgestaltung, was mit Michael Bertl, mit dem ich nun bereits vier Filme gemacht habe, wunderbar funktioniert hat. Wir bereiten uns intensiv vor, jede Szene ist genau durchdacht und durchgeplant.
Die Lichtkomposition wie auch die Farbgestaltung fallen auf. Was war hier Ihr Konzept?
Johannes Schmid: Ich musste an Chabrol-Filme der 90er-Jahre denken, überhaupt an französische Filme mit ihren oft reduzierten Farbgebungen, oder auch an das skandinavische Kino mit seiner Kühle, die auch unsere Geschichte hat. Klar war auch, dass wir in der schmutzigen Jahreszeit drehen müssen, „Wir für immer“ ist keine Geschichte, die im Hochsommer spielen könnte. Auch der Regen spielt eine Rolle, die echte Nacht. All das hat mit der emotionalen Setzung der Geschichte zu tun. Und Michael Bertl ist einfach der „Caravaggio“ der deutschen Filmfotograf*innen.
Dass es Ihnen ein Anliegen ist, besonders einem jungen Publikum interessante Geschichten und Identifikationsangebote zu geben, zeigen Sie auch wieder mit „Wir für immer“. Ist das junge Publikum aber überhaupt beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu finden?
Johannes Schmid: Die Öffentlich-Rechtlichen machen ja durchaus immer mehr, auch immer mehr Genregeschichten, um jüngeres Publikum abzuholen. Oft dann aber für die Mediatheken. „Wir für immer“, in dem ein 17-Jähriger der Protagonist ist, der eine schwierige Familiengeschichte erzählt, wird im analogen Fernsehen an einem Mittwoch um 20.15 Uhr in der ARD laufen. Dass der WDR da mitgegangen ist, hat uns ehrlich gesagt sehr positiv überrascht.
„Die erste Liebe in einer Zartheit und Vorsichtigkeit erzählen, mit zwei puren Menschen.”
Sie haben aber auch mit Philip Günsch und Mina-Giselle Rüffer zwei ganz tolle junge Talente.
Johannes Schmid: Wir haben nicht nur zwei tolle junge Darsteller,*innen, denen die Branche offenstehen wird, sondern auch Marie Leuenberger! Sie ist einfach der Wahnsinn!
Das auch, natürlich! Aber Sie erzählen in „Wir für immer“ auch eine wunderbare erste Liebe. Und da kommen eben Ihre jungen Darsteller zum Zug…
Johannes Schmid: Philip und Mina-Giselle waren ein großer Glücksfall. Casterin Daniela Tolkien und ich haben ausgiebig gecastet, weil es wirklich zwei junge Darsteller sein mussten, die gut gemeinsam funktionieren. Mir war wichtig, diese erste Liebe in einer Zartheit und Vorsichtigkeit zu erzählen, mit zwei puren Menschen, wenn man so will. Die uns in ihren Gesichtern in das Innenleben ihrer Figuren schauen lassen. Eine Pose ist eine Pose. Dahinter steckt immer eine Unsicherheit. Das haben wir versucht, abzubilden. Vielleicht sind die jungen Leute heutzutage viel cooler und können das alles besser. Ich weiß nur, wir konnten es damals nicht besser. Und wahrscheinlich hat sich gar nicht so viel geändert. Mit Philip und Mina-Giselle dahinzukommen, war ein wirklich toller Prozess.
Jetzt aber zu Marie Leuenberger: Was zeichnet sie aus?
Johannes Schmid: Marie ist einfach eine unglaublich tolle und faszinierende Schauspielerin. Ich hatte sie schon länger auf dem Schirm. Für die Rolle der Lina war sie die absolut richtige Entscheidung. In ihrer Darstellung bringt sie etwas mit, dass man die Figur trotz allem auch mögen kann. Bei allem Schlimmen, was sie macht und ihrem Sohn antut, spürt man immer ihre Bedürftigkeit. Das war mir wichtig. Marie hat in unglaublich vielschichtiges Gesicht mit vielen Facetten und Schattierungen, an dem man sich nicht so leicht sattsieht. Sie hat sich mit aller Wucht reingeschmissen in diese – streckenweise ja auch unangenehme – Rolle.
Ihr Film läuft auf dem Filmfest München, wird auf der Kinoleinwand gezeigt: Was bedeutet Ihnen die Einladung?
Johannes Schmid: Ich freue mich unglaublich, dass er auf dem Filmfest läuft, weil es ein tolles Festival und München gewissermaßen ein Stück Heimat ist. Es ist eine große Ehre, dass Ulrike Frick und ihr Team sich für unseren Film entschieden haben. Natürlich freue ich mich, ihn auf der Kinoleinwand zu sehen, weil ich ja vom Kino komme und der Film, wie wir ihn gedacht und gedreht haben, meines Erachtens durchaus die große Leinwand aushalten kann. Gleichwohl ist der Film fürs Fernsehen gemacht, ist eingerichtet für das kleinere Format, näher an den Figuren, ohne die großen Totalen. Für mich war das eine sehr positive Erfahrung, dass man fürs Fernsehen ernsthafte und gute Geschichten erzählen kann, die von ihrer inhaltlichen und ästhetischen Qualität nicht hinter Kinofilmen zurückbleiben.
Das Gespräch führte Barbara Schuster