Mit ihrem Dokumentarfilm „The Landscape and the Fury“ schaffte es die Schweizer Filmemacherin Nicole Vögele in die Vorauswahl der Dokumentarfilme für den Europäischen Filmpreis 2024. Mit ihren Arbeiten gewann sie schon viele wichtige Preise. Wir sprachen mit ihr über die Bedeutung von Auszeichnungen, ihre ungewöhnlichen Filme und ihren Weg vom Fernsehjournalismus zum Regiestudium in Ludwigsburg hin zur Professur in Dresden.
Mit Ihrem Dokumentarfilm „The Landscape and the Fury“ wurden Sie für den Europäischen Filmpreis nominiert. Ist das nach dem Hauptpreis in Nyon beim Visions du Réel und dem Doc Alliance Award eine weitere schöne Anerkennung?
Nicole Vögele: Ich war sehr überrascht, mit meinem absolut nicht Mainstream-kompatiblen Film in diese Auswahl gekommen zu sein. Mein Film ist relativ still, er verweigert sich einer klassischen Narration, dauert fast zweieinhalb Stunden, lässt sich also Zeit und hat eher wenig Sprache. Das sind alles Elemente, die nicht dazu führen, dass sich Netflix oder Amazon darum reißen. Man könnte sagen, Elemente, die es generell schwer machen, ein breites Publikum zu gewinnen. Das wusste ich aber auch. Deshalb ist es natürlich eine Freude, nun durch diese Nominierung, zu den relevanten Dokumentarfilmen des Jahres zählen zu. Ich wusste nicht mal, dass wir einreichen durften 😁.
„Filmemachen, Journalismus, Lehren. Das sind meine drei Leben.”
Kennen Sie die anderen nominierten Filme?
Nicole Vögele: Nein, ich habe tatsächlich keinen der anderen gesehen. Ich kenne aber die meisten Titel. Manche waren auch in Nyon, andere haben bei der Berlinale für Aufsehen gesorgt. Ich bin nicht die Person, die extrem cineastisch unterwegs ist in dem Sinne, dass ich mir alles reinziehe. Das hat auch damit zu tun, dass ich einerseits noch journalistisch tätig bin und andererseits meiner Professur an der Hochschule für bildenden Künste in Dresden nachkomme. Filmemachen, Journalismus, Lehren. Das sind meine drei Leben. Als Inspirationsquelle dienen mir auch weniger andere Filme, ich orientiere mich lieber an Literatur oder anderen Medien.
Ihre Karriere begann sehr früh im Fernsehen, mit TV-Reportagen. Dann sattelten Sie noch ein Studium in Dokumentarfilmregie an der Filmakademie Baden-Württemberg drauf. Inwiefern beeinflusst ihr Background mit der Reportagearbeit fürs Fernsehen Ihr Schaffen fürs Kino?
Nicole Vögele: Das beeinflusst extrem. Ich bin damals superjung, mit 19, in den Journalismus gerutscht, zufällig, ohne Abi. Fernsehjournalismus ist geprägt von viel Druck und Stress. Mit Mitte 20 habe ich mir überlegt, was ich noch tun könnte. Hätte ich Abi gehabt, hätte ich so etwas wie Philosophie studiert. Dann hat mir jemand erzählt, dass ich es doch mal an einer Filmhochschule versuchen sollte. Mit meinem Background, der Erfahrung durch die vielen TV-Reportagen und einige TV-Dokus, hätte ich gute Chancen. Das Interessante war, als ich in Ludwigsburg gelandet bin und mir klar wurde, dass ich jetzt ein fünf oder sechsjähriges Studium vor mir habe, dass ich das auch ernstnehmen will und meine Skills nicht in Richtung „bisschen besseres Fernsehen“ weiterentwickeln wollte. Im Gegenteil: Ich habe die absolut extremste Entfernung zu Fernsehen gesucht mit dem Filmemachen. Ich habe mich total gepusht, in eine Sphäre vorzudringen, die ich nicht kannte. Dadurch bin ich beim Slow Cinema gelandet. Ich musste mich zuerst abgrenzen und wie einen eigenen Beruf daraus machen, um meine Persönlichkeit als Filmemacherin zu finden, möglichst weit weg vom Fernsehen, wo immer alles erklärt werden muss, alles eindeutig sein muss. Das Leben ist aber alles andere als eindeutig. Der Theaterregisseur René Pollesch hat mal gesagt: Die Menschen erzählen sich nachvollziehbare Geschichten und leben unnachvollziehbare Leben. In dieser Kluft stecken wir.
„Dieses Antennenschärfen kommt von meiner Arbeit fürs Fernsehen.”
Aber sicherlich haben Sie durch die Arbeit beim Fernsehen auch was gelernt…
Nicole Vögele: Natürlich, zumal ich ja auch weiterhin fürs Fernsehen arbeite, mittlerweile habe ich 20 Jahre Fernseherfahrung, damals, anfangs Studium, immerhin schon acht oder neun Jahre. Ich hatte früher viel News gemacht, musste jeden Tag raus, hatte ständig mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun. Dieser Teil, auf Menschen zuzugehen, wahrzunehmen, zu lernen, wo gerade was abgeht, diese besonderen Antennen dafür zu entwickeln – das liegt mir. Das habe ich übersetzen können in größer angelegte Beobachtungen für meine Kinofilme. Wenn ich im Wald sitze, und es passiert sozusagen nichts, weiß ich, dass nie nichts passiert. Die Landschaft spricht, es liegt immer etwas in der Atmosphäre… Dieses Antennenschärfen kommt von meiner Arbeit fürs Fernsehen, wo ich die letzten Jahre vorwiegend investigative Storys unter anderem über eine CIA-Affäre oder die Gewalt an den EU-Außengrenzen realisiert habe.
Für viele kleinere Produktionen und Arthousefilme sind Festivals mittlerweile unabdingbar, um überhaupt gesehen zu werden. Im Kino tun sie sich dann oft schwer. Wie sieht Kinoauswertung von „The Landscape and the Fury“ in der Schweiz aus?
Nicole Vögele: Die Kinoauswertung ist immer schwierig. Filme wie ich sie mache, können nicht einfach so ins Kino geworfen werden. Man muss sie rahmen, zum Beispiel mit Gesprächen oder thematischen Panels. Es braucht eine besondere Herangehensweise. Darüber haben wir bereits mit unserem Schweizer Verleih gesprochen. Speziellere Filme brauchen eine spezielle Kinoauswertung in spezielleren Kinos. Alles andere macht keinen Sinn.
Helfen die Einladungen auf Festivals dabei auch?
Nicole Vögele: Zwei Punkte sind mir über die Jahre aufgefallen: Wenn man auf guten Festivals läuft, wird man durchaus wahrgenommen. Ich erinnere mich, dass sich bei meinem vorherigen Film, „Closing Time“, irgendwann eine amerikanische VoD-Plattform für Arthousefilme gemeldet hat. Der Hollywood-Kameramann Ed Lachman hatte ihn auf irgendeinem Festival gesehen und wollte ihn für diese Plattform kuratieren. Das war echt cool. Solche speziellen Liebhaberseiten, allgemein diese Form der Auswertung im Internet, hat es vor zehn Jahren noch nicht gegeben. Dann finde ich – auch wenn es die Geldgeber vielleicht nicht nur gerne hören –, dass ich meine Filme auch für die Zukunft mache. Ich kann mir vorstellen, dass ein Film wie „The Landscape and the Fury“ auch in zwanzig Jahren plötzlich wieder wichtig sein kann. Das ist für mich ein wichtiger Gedanke, gerade für meine künstlerische Herangehensweise.
„Ich mache megakomisch Filme, die von Anfang an irgendwie einen Platz gefunden haben.”
Was genau lehren Sie an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden?
Nicole Vögele: Ich bin bei der Bildenden Kunst angedockt und habe dort die Professur für Bewegtbild. Wir arbeiten generell eher experimentell, dokumentarisch, essayistisch, aber auch fiktional. Mir liegt die Lehrtätigkeit am Herzen, weil mir am Herzen liegt weiterzugeben, was ich bekommen habe. Ich habe es ohne Abi und ohne Akademiker in der Familie auf eine solche Position geschafft. Ich hatte immer Menschen um mich herum, die mich krass ermutigt haben, meiner Stimme zu folgen. Ich mache megakomische Filme, die von Anfang an irgendwie einen Platz gefunden haben. Das habe ich dem Zuspruch meines Umfelds zu verdanken. Ich will vermitteln, dass man keine Hollywoodstory erzählen muss, nur weil einem das vielleicht irgendein Redakteur nahelegt. Dass man sich selber treu sein soll, sich nicht verbiegen muss. Zum Beispiel auch, dass man künstlerische und komplexe Filme machen darf, ohne dabei hochintellektuell daherzuschwatzen. Da gibt es eine völlig schiefe Vorstellung. Das versuche meinen Studierenden weiterzugeben.
Das Gespräch führte Barbara Schuster