Großes Gangsterfresko über einen skandalbehafteten Lokalpolitiker, der von der Polizei benutzt wird, einen berüchtigten Mafiaboss auf der Flucht endlich zu stellen.
CREDITS:
Land / Jahr: Italien 2024; Laufzeit: 125 Minuten; Regie; Drehbuch: Fabio Grassadonia & Antonio Piazza; Besetzung: Toni Servillo, Elio Germano, Daniela Marra, Barbora Bobulova, Giuseppe Tantillo, Fausto Russo Alesi, Antonia Truppo, Tommaso Ragno, Betti Pedrazzi
REVIEW:
Drei Jahrzehnte befand sich Matteo Messina Denaro in Sizilien auf der Flucht, entzog sich dem Zugriff der Behörden als einer der letzten großen Mafia-Granden, weil er sich nie eine Blöße gab, sein Versteckspiel mit eiserner Disziplin und Bereitschaft zu absoluter Genügsamkeit durchzog und mit ganz wenigen Vertrauten in der Außenwelt mit einem komplizierten Briefsystem kommunizierte. Diese in Chiffren verfassten Briefe bilden nun den Dreh- und Angelpunkt von „Iddu“, dem dritten gemeinsamen Film des italienischen Filmemacherduos Fabio Grassadonia und Antonio Piazza und ihr erster Film seit sieben Jahren – vormals waren sie 2013 in Cannes in der Sémaine de la critique vertreten gewesen mit „Salvo“.
Im Mittelpunkt der Handlung steht indes Catello, eine Traumrolle für den großen Toni Servillo („La Grande Bellezza“), ein in Ungnade gefallener ehemaliger Lokalpolitiker und Schuldirektor, der einst ein geschickter Strippenzieher war, aber nach einem ungeschickten Manöver im Knast gelandet ist. Dass ihn nichts Gutes erwarten wird, ahnt er bereits, als gleich bei seiner Entlassung nach sechs Jahren eine Möwe auf einen Trainingsanzug kackt. „Irgendetwas fällt immer vom Himmel“, sagt er. Und wird es im Lauf der Handlung wiederholt sagen. Nichts von seinem einstigen Vermögen ist geblieben. Die große Wohnung ist weg, der Mercedes ist weg, das mit großen Träumen geplante Hotel ist ein Trümmerhaufen, die Tochter ist schwanger und mit dem Dorftrottel liiert. Und wenn er noch mehr Haare hätte als die wenigen, die er über den kahlen Schädel kämmt, würden sie ihm die Schulden vom Kopf fressen.
Oder: Catello ist verzweifelt, eine lächerliche Gestalt. Aber er ist auch ein ewiges Schlitzohr. Als die Polizei sich an ihn wendet, weil sie hofft, über ihn an seinen Patensohn Matteo Messina Denaro heranzukommen, der das Gesetz seit Jahrzehnten narrt, glaubt er, den Fuß wieder in der Tür zu haben. Er setzt unterwürfige Briefe an Matteo auf, der sich tatsächlich gebauchpinselt fühlt, als sie ihn erreichen, in seinem Unterschlupf in abgedunkelten Geheimräumen bei einer Witwe, der er einst aus der Bredouille geholfen hat. Matteo, gespielt von Elio Germano, Gewinner des Darstellerpreises in Berlin 2020 für „Volevo nascondermi“ sowie in Cannes 2010 für „La nostra vita“ und zuletzt in Venedig vor zwei Jahren als Hauptdarsteller in Gianni Amelios „Il signore delle formiche“, hat viel Zeit in seinem selbstgewählten Gefängnis, durchlebt vor seinem geistigen Auge seine schlimmsten Morde, die ihm den Schlaf rauben, hat aber nichts von seiner messerscharfen Gefährlichkeit verloren: So gefürchtet ist er, erzählt man sich, dass selbst der nicht gerade zimperliche Corleone-Clan nur im Flüsterton seinen Namen in den Mund nimmt. Catello weiß, dass auch nur ein falscher Schritt, ein falscher Ton, eine falsche Formulierung dafür sorgen kann, dass er für immer in der nächstgelegenen Bucht versenkt wird.
Die zahllosen komplizierten Winkelzüge sind das Salz in der Suppe in diesem Gangsterfresko, das zwischendurch richtig lustig sein kann, was vor allem Toni Servillo zu verdanken ist, nie um einen feinen gedrechselten Satz verlegen. Aber man darf sich nichts vormachen. „Iddu“ ist eine Tragödie. Niemandem ist zu trauen, jeder verfolgt seine eigene Agenda. Nicht alles, aber doch ziemlich viel geht schief. Und es wird gestorben. Selten trifft es die, die es vielleicht auch verdient hätten. In seinen besten Momenten nimmt der Film die Qualität eines Fiebertraums ein, wenn Toni Servillo als Catello, dieser lächerliche Mann, ein Manöver nach dem anderen versucht, sich aus einer aussichtslos erscheinenden Situation zu befreien, auch wenn es bedeutet, dass andere einen hohen Preis zahlen müssen. Das ist Starkino, das sich in Venedig sehr gut macht, Seite an Seite mit den Schwergewichten aus Hollywood.
Thomas Schultze