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REVIEW VENEDIG: „Harvest“

Radikale Versuchsanordnung über eine Verkettung von Ereignissen, die das Ende einer bislang harmonischen Gemeinde in Bewegung setzen.

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Caleb Landry Jones in „Harvest“ von Athina Rachel Tsangari (Credit: Jaclyn Martinez, Harvest Film Limited)

CREDITS:
Land / Jahr: Großbritannien, Deutschland, Griechenland, Frankreich, USA 2024; Laufzeit: 131 Minuten; Regie: Athina Rachel Tsangaris; Drehbuch: Joslyn Barnes, Athina Rachel Tsangaris; Besetzung: Caleb Landry Jones, Harry Melling, Rosy McEwen, Arinzé Kene, Thalissa Teixeira, Frank Dillane

REVIEW:
Richtig viel Hoffnung macht einem Athina Rachel Tsangaris nicht in ihrer ersten Regiearbeit seit dem gefeierten „Chevalier“ aus dem Jahr 2015, der im Wettbewerb von Locarno gelaufen war. Die Menschheit ist, sagt die ehemalige Weggefährtin von Yorgos Lanthimos in ihrer radikalen und kompromisslosen Versuchsanordnung, die ihre Weltpremiere im Wettbewerb der 81. Mostra in Venedig feiert, zum Untergang verdammt, weil der Mensch unweigerlich dem Menschen ein Wolf ist. Die Modernität selbst ist der Feind, ein garantierter Bringer von Unheil. „Harvest“, eine Adaption des 2013 erschienenen Romans von Jim Grace, erzählt die Geschichte des Garten Eden als eine Art universelle Science-Fiction-Parabel, wenngleich man nach Wissenschaft und Zukunft und Technologie vergeblich sucht. Weder Ort noch Zeit lassen sich genau bestimmen. Aber es lässt sich festhalten, dass die im Film gezeigten Ereignisse sich an sieben Tagen abspielen und auf sehr tragische und bisweilen aberkomische Weise aus dem Ruder laufen. 

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„Harvest“ von Athina Rachel Tsangari (Credit: Jaclyn Martinez – Harvest Film Limited)

Es geht um eine von der Außenwelt bisher unberührte Gemeinde, die auch ein Urstamm im Amazonas sein könnte, nur dass die Menschen mit schottischem Akzent sprechen und die Kleidung zumindest grob in Richtung Mittelalter deutet, wobei moderne Brillen und andere Accessoires aus der Zeit gefallen wirken. Wir wissen nicht, wo wir sind und wann wir sind. Aber wir wissen, dass die Menschen sich ihr Überleben mit harter landwirtschaftlicher Arbeit sichern, angeführt von dem Landherrn Master Kent, der als Außenstehender die Leitung der Kolchose vor Jahren übernommen hat. Mit ihm aus der Stadt ist sein Kindheitsfreund und ehemaliger Bediensteter Walter Thirsk gekommen, der unser Erzähler sein wird und aus dessen Perspektive sich der Untergang seiner Welt abspielen wird. Ein simpler Mann, der Natur zugetan und zufrieden mit seiner bescheidenen Existenz. Er kennt hier jeden Zentimeter, kann jede Pflanze und ihre Wirkung benennen, ist eins mit dem Boden, den Bäumen, damit aber auch ein Außenseiter, ein Fremder, der in den Augen der anderen Menschen niemals wirklich angekommen ist. Caleb Landry Jones spielt ihn so wie seine Figuren in „DogMan“ oder „Nitram“, mit vollem Körpereinsatz, bis zur Selbstaufgabe. 

Die Menschen von Außen werden es sein, die die Katastrophe in die Wege leiten und forcieren: drei Flüchtlinge aus einer anderen Gemeinde – die beiden Männer werden an den Pranger gestellt, der Frau werden die Haare geschoren; ein Kartenmacher, der geschickt wird, das Land klar einzuteilen; ein Geschäftsmann, dessen Entscheidungen von reinem Pragmatismus getrieben sind. Er wird kein Mitleid kennen, keine Gnade, kein Einsehen mit den Menschen und ihren Anliegen. Und dann wird die Gemeinde brennen, Menschenleben werden geopfert. Crushed by the wheels of industry. „Harvest“ ist eine Allegorie. Fast alles, was sich abspielt, hat Allgemeingültigkeit. In jeder Szene können wir uns wiedererkennen, Entwicklungen und Ereignisse aus unserer Zeit. Weil Athina Rachel Tsangaris sich keinen Illusionen hingibt in ihrem außergewöhnlichen Film mit seinen ausgewaschenen Farben, als handelte es sich um verfilmtes Polaroid. Eine Extremerfahrung, gewiss, mit bisweilen unerträglich harter Gewalt. Aber eben auch faszinierend, ein Original durch und durch.

Thomas Schultze