Die Jury um die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner hat entschieden: Der Goldene Leopard des Locarno77 geht nach Litauen: „Toxic“ von Saulė Bliuvaitė gewinnt nicht nur den Hauptpreis des Schweizer A-Festivals, sondern kommt noch drei weitere Mal zum Zuge. Kurdwin Ayubs „Mond“ gewinnt vierfach.
Der Wettbewerb von Locarno77 zeichnete sich vor allem durch starke Beiträge von Regisseurinnen aus. Diese setzten sich schlussendlich auch durch: Jessica Hausner und ihre Jurykolleg:innen Diana Elbaum, Payal Kapadia, Luca Marinelli und Tim Blake Nelson vergaben die Hauptreise an von Frauen inszenierte Werke. Litauen zählte zu den auffälligsten Filmländern.
Mit ihrem Langfilmdebüt „Toxic“ hat die aus Litauen stammende Filmemacherin Saulė Bliuvaitė den mit 75.000 Schweizer Franken dotierten Goldenen Leoparden des Wettbewerbs von Locarno77 gewonnen. Dies hat die Jury um Jessica Hausner als Präsidentin bei der heutigen Preisverleihung im GrandRex verkündet. Das Coming-of-Age-Drama inszenierte Bliuvaitė nach eigenem Drehbuch, das wiederum von persönlichen Erlebnissen inspiriert worden ist. Im Mittelpunkt steht die 13-jährige Maria, die von ihrer Mutter verlassen wurde und bei ihrer Großmutter in einer tristen Industriestadt leben muss. Dort trifft sie Kristina, deren Traum es ist, Model zu werden. Um ihr näher zu kommen, meldet sich Maria bei einer ominösen Modelschule an, wo sich die Mädchen auf das größte Casting der Region vorbereiten. Ihre zweideutige Beziehung zu Kristina und das intensive, kultähnliche Umfeld der Modelschule sind der Ausgang von Marias Suche nach ihrer eigenen Identität.
Die starke Frauengeschichte hat nicht nur den Hauptpreis des Schweizer A-Festivals gewonnen: Hinzu kommen der Swatch First Feature Award von der First Feature Jury, der Ecumenical Jury Award und Platz zwei der Junior Jury Awards.
Mit „Mond“ (hier unsere Besprechung) hat sich ein weiterer, von einer Frau gemachter und von Frauen geprägter Film durchgesetzt in Locarno: Der zweite Langfilm der österreichischen Filmemacherin Kurdwin Ayub (wie schon das tolle Debüt „Sonne” von Ulrich Seidl Filmproduktion produziert) kam schon beim Pressescreening unglaublich gut an. Die Jury um Landsfrau Hausner stimmte offenbar überein und zeichnete Ayubs Film über weibliche Selbstbestimmung und Emanzipation mit dem Special Jury Prize aus, der mit 30.000 Schweizer Franken ausgestattet ist. Außerdem gewann „Mond“ den Europa Cinemas Label Award, den Boccalino D’Oro Award, den eine unabhängige Filmkritiker-Jury vergibt, und er erhielt eine besondere Erwähnung der Ökumenischen Jury.
Zwei Auszeichnungen gingen an den Wettbewerbsbeitrag „Drowning Dry“, in dem der litauische Filmemacher Laurynas Bareiša den Umgang mit Schmerz und Traumata untersucht: Der Regisseur, dessen Debüt „Pilgrims“ in Venedig lief und später Litauen im Oscarrennen vertrat, erhielt für seinen zweiten Langfilm den Leoparden für die beste Regie, der mit einem Preisgeld in Höhe von 20.000 Schweizer Franken einher geht. Sein Ensemble um Gelminė Glemžaitė, Agnė Kaktaitė, Giedrius Kiela, Paulius Markevičius gewann zudem einen von zwei Darstellerpreisen.
Der zweite Goldene Leopard für die beste Darstellung ging an Kim Minhee für „By the Stream“ von Hong Sangsoo (Südkorea).
Im Wettbewerb für neue Talente, dem Concorso Cineasti del Presente, zeichnete die Jury um C.J. „Fiery“ Obasi, Lina Soualem und Charles Tesson den georgisch-niederländischen Beitrag „Holy Electricity“ von Tato Kotetishvili mit dem Goldenen Leoparden aus. Diese Auszeichnung ist mit 35.000 Schweizer Franken dotiert. Der mit 20.000 Schweizer Franken ausgestattete Regiepreis ging an Denise Fernandes für „Hanami“ (Schweiz/Portugal/Kap Verde). Den Special Jury Prize CINÉ+ durfte Maxime Jean-Baptiste für „Listen to the Voices” entgegennehmen, die Darstellerpreise wurden Callie Hernandez für „Invention“ von Courtney Stephens (USA) und Anna Mészöly für „Lesson Learned“ von Bálint Szimler (Ungarn) zugesprochen. Der ungarische Beitrag wurde zudem mit einer besonderen Erwähnung honoriert.
Beim Pardo di Domani, dem Wettbewerb für Kurzfilme, gehört die deutsch-russische Kopooduktion „Hymn of the Plague“ von Ataka51 zu den Gewinnern: Der Beitrag wurde mit dem Pardino d’Argento SRG SSR (5000 Schweizer Franken) geehrt. Beim Schweizer Wettbewerb holte sich unter anderem „Lux Carne“ von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) eine Auszeichnung: Filmstudent Gabriel Grosclaude wurde mit dem Best Swiss Newcomer Award ausgezeichnet.
Beim Pardo Verde, der seit der 75. Ausgabe des Festivals existiert und das Umweltbewusstsein mithilfe des Kinos und seiner Erzählungen weiter schärfen soll, erhielt der deutsche Beitrag „Der Fleck“ von Willy Hans (er lief im Wettbewerb Cineasti del Presente; hier unsere Besprechung) eine besondere Erwähnung. Der Hauptreis, der mit 20.000 Schweizer Franken dotiert ist, ging an den Wettbewerbsbeitrag „Agora“ von Ala Eddine Slim.
Zu den weiteren Preisen, die im Rahmen des Locarno Film Festivals vergeben werden, zählt auch der FIPRESCI Preis: Dieser wurde „Youth (Hard Times)“ von Wang Bing zugesprochen. Der Grand Prix Semaine de la Critique ging in die Schweiz an Simon Baumanns „Wir Erben“.
Giona A. Nazzaro, Künstlerischer Leiter des Locarno Film Festival, betont nach der Preisverleihung: „Es war ein einzigartiges Festival, das einmal mehr gezeigt hat, warum Locarno sowohl beim Publikum weltweit als auch in der Filmbranche so geschätzt wird. Kreativität und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft waren die Elemente, die sich durch alle Sektionen zogen. Das Kino ist eine treibende Kraft, und Locarno ist ein Aushängeschild dafür. Wir sind sehr stolz auf diese Ausgabe und dankbar für die enorme Teamleistung, die zu ihrem Erfolg beigetragen hat. Der Sieg der Newcomerin Saulė Bliuvaitė, deren Film ,Toxic´ den Pardo d’Oro und den Swatch First Feature Award gewann, bestätigt das Gespür des Locarno Film Festival für die Entdeckung innovativer Talente. Der Spezialpreis der Jury für Kurdwin Ayubs ,Mond´, der MUBI Award – Debut Feature für Sylvie Ballyots ,Green Line‚ und der Preis für die beste Nachwuchsregisseurin im Concorso Cineasti del Presente für die schweizerisch-kapverdische Regisseurin Denise Fernandes (,Hanami´) zeigen auch das besondere Augenmerk, das unsere Jurys auf mutige Filmemacherinnen gelegt haben. Locarno77 hat die zentrale Rolle der weiblichen Stimmen im zeitgenössischen Kino noch stärker hervorgehoben.”
Alle Preisträger sind hier zu finden.