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REVIEW CANNES: „Diamant Brut“

Intensives Drama über eine 19-Jährige im Süden Frankreichs, die von der Idee besessen ist, im Reality TV berühmt zu werden.

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Agathe Riedingers „Diamant Brut“ (Credit: Silex Films)

CREDITS:
Land/Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 103 Minuten; Regie, Drehbuch: Agathe Riedinger; Besetzung: Malou Khebizi, Idir Azougli, Andréa Bescond, Ashley Romano

REVIEW: 
Liane, die Heldin, wenn man diesen Ausdruck denn verwenden will, von „Diamant Brut“, das Regiedebüt von Agathe Riedinger, begleitet die Filmemacherin schon seit Jahren, stand 2017 bereits im Zentrum ihres Kurzfilms „J’attends Jupiter“ und ist nun auch in ihrem Spielfilmdebüt in jeder Einstellung zu sehen. Es besteht auch nie ein Zweifel: Riedinger kennt diese 19-Jährige so gut wie ihre beste Freundin. Mit dokumentarischer Genauigkeit folgt sie diesem grotesk aufgetakelten Mädchen, das man immer retten will, das aber auf keinen Fall gerettet werden will, weil sie zumindest für sich weiß, was sie sein und was sie werden will: eine weltberühmte Influencerin auf dem Sprung zum Reality-TV-Star. 40.000 Follower hat sie schon, die jeden neuen Insta-Eintrag entweder mit religiöser Bewunderung oder tiefster Verachtung kommentieren. 

Dass Liane im südfranzösischen Fréjus in einer trostlosen Welt lebt, wie man sie in ihrer lichtdurchfluteten Tristlosigkeit vielleicht aus Audiards „Der Geschmack von Rost und Knochen“ kennt, nur enger noch, streng kadriert im klassischen Fernsehformat 1,33:1, viel Sonne, viel Beton, kann sie ausblenden, die Geldprobleme ihrer Mutter, die Perspektivlosigkeit ihres Realität. Es berührt sie nicht, weil sie sich freigemacht hat davon: Liane lebt ihr Leben für Reality-TV-Formate, stylet sich wie eine Kim Kardashian aus der Gosse, von allem zu viel, zu viel Make-Up, zu viel nackte Haut, zu viel ausgestellte Sexualisierung. Sie wäre das geborene Opfer, wenn sie nicht eine wahre Glaubende wäre, wie Falconetti als Dreyers Jeanne d’Arc, nur dass sie eben daran glaubt, es eines Tages zu schaffen. Daran kann kein Rückschlag rütteln: Der Anruf mit der Einladung zur neunten Staffel von „Mystery Island“ nach Florida, das steht fest, sie wird kommen. 

So taumelt Liane durch einen Film, der so aussieht, als würde Andrea Arnold versuchen, David Cronenberg zu sein: Der Body-Horror ist real, der Körper ist eine für die Fangemeinde zu formende Masse. Liane ist wie Norma Desmond, nur auf den Kopf gestellt: Sie war nie ein Star, sie ist nur besessen davon, einer zu werden. Weshalb sie immer weitermacht, alle Avancen eines Jungen, der sie offenkundig wirklich mag, zurückweist, niemals aufgibt, auch wenn in einer späten Szene eine Vergewaltigung in der Luft liegt. Lasst sie doch, sagt einer der drei Männer, sie ist doch noch ein Kind. The kids sind hier definitiv nicht alright. Sie alle sind wie Liane. Ihre kleineren Schwestern. Ein paar Straßenjungs, die drohen, einen Sportwagen zu zerkratzen, wenn sie keine Zigaretten kriegen. Am Schluss wird klar, dass die aussichtslose Situation Methode hat, die Verzweiflung der Heldin ihre Apotheose ermöglicht. „Diamant Brut“ ist die Geschichte einer Himmelfahrt, einer Seligsprechung, ein Heiligenbildchen in der Gestalt eines Brüder-Dardenne-Films. Und das hat was, auch wenn eine Beteiligung am Wettbewerb von Cannes einfach als zu große Schuhe erscheinen, ähnlich wie „Holly“ von der jungen Belgierin Fien Troch im letztjährigen Wettbewerb der Mostra von Venedig: Gut, sie gesehen zu haben. 

Thomas Schultze