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Matthias Glasner zu „Sterben“: „Against all rules, against all odds“ 

Mit „Sterben“ ist Matthias Glasner ein einzigartiger Film gelungen, für den er bei der Berlinale den Drehbuchpreis erhielt und der für neun Lolas nominiert wurde. SPOT führte mit ihm ein ungewöhnlich langes und noch ungewöhnlicher offenes Gespräch über das zutiefst persönliche Epos, das vom Sterben erzählt und doch immer das Leben meint. Kinostart ist am Donnerstag im Verleih von Wild Bunch.

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Alles in das Drehbuch und den Film gepackt: Matthias Glasner mit dem Drehbuchpreis der Berlinale (Credit: Imago / Eventpress)

Zu Beginn des Films sieht man ein etwa fünfjähriges Mädchen, das in die Kamera eines iPhones spricht. Wer ist das?

Matthias Glasner: Das ist meine Tochter. Ich bin sehr spät erstmals Vater geworden, habe mittlerweile zwei Kinder, drei und sechs Jahre alt. Ein Umstand, der eine wichtige Rolle für die Entstehung von „Sterben“ spielt. Ich wollte nie eine Familie, wollte eigentlich auch nie Kinder haben. Ich wollte immer nur Filme machen. Ich bin besessen von Film, denke 24 Stunden am Tag im Grunde nur über Film nach. Und dann kam das erste Kind, und es war gut. Zur selben Zeit sind meine Eltern gestorben. Mein Vater ist genauso gestorben wie im Film. Meine Mutter starb ein Jahr später. Drei Wochen davor ist meine Tochter auf die Welt gekommen. Wie jeder, der Kinder hat, bestätigen können wird, ist die Zeit nach der Geburt eine sehr fordernde Zeit. Alles ist neu, ungewohnt, man trägt eine ungeahnte Verantwortung, bekommt kaum Schlaf. Es war ein Ausnahmezustand, ständig übermüdet und gleichzeitig aufgewühlt vom Tod meiner Eltern und meinen Gefühlen als neuer Vater. Schnell habe ich gemerkt, dass es mir gelingen musste, zumindest ein bisschen Raum für mich zu schaffen. Dieser Raum ist für mich meine Arbeit. Das ist das Filmemachen und das Schreiben. Oder im Kino sitzen, im Dunkeln, unbeobachtet. Für mich ist das Urlaub. 

Konnten Sie denn zuhause überhaupt arbeiten?

Matthias Glasner: Ich bin raus aus der Wohnung und habe mich in einen Coffeeshop in den ersten Stock gesetzt, ein eine Kette, ganz schrecklich. Aber egal. Ich wusste, dass ich gleich wieder zurückmusste, mich um meine Tochter kümmern, Kinderwagen schieben, Windeln wechseln. Es war ein ganz enges Zeitfenster, ich wusste, dass ich vielleicht nur zwei Stunden hatte. Habe also den Kopfhörer aufgesetzt und geschrieben. Anders als bei meinen anderen Projekten, die ich fast immer nachts geschrieben hatte, habe ich mich nicht erst in einen Zustand gebracht, eine Flasche Wein getrunken, oder ein Konzept erarbeitet. Ursprünglich wollte ich nur über den Tod meiner Eltern schreiben und habe angefangen, ohne zu wissen, wohin mich das führen würde. Als Filmemacher hatte ich gerade auch viele kommerzielle Sachen gemacht, eine Folge des „Polizeiruf 110“, „Das Boot“ stand bereits an – viel Handwerk also, wo es im Grunde immer nur um das Erzählen einer Geschichte geht. So viel davon, dass ich einen inneren Gräuel entwickelt hatte und mir vornahm, einen Anti-McKee-Film zu machen, einen Film against all rules, against all odds. Ich nahm mir vor, in dem Drehbuch nur die Dinge zu machen, die man eigentlich nicht darf, die verboten sind, vor denen abgeraten wird. Innerhalb von zwei Monaten hatte ich ein 200-seitiges Drehbuch geschrieben. 

Wie sehr ähnelte es dem, was Sie schließlich verfilmt haben?

Matthias Glasner: Man kann sagen, dass es zum allergrößten Teil so geblieben ist. Dieses Drehbuch ist völlig instinktiv aus mir herausgeflossen. Ich wollte dabei ganz nah auch bei mir bleiben, weil ich das Gefühl hatte, dass ich keinen Film machen wollte, der ein Themenfilm ist. Meines Erachtens ist das gerade bei deutschen Filmen oft der Fall. Wir machen jetzt einen Film…  über den Krieg…  über die Immigration… über das Klima… über Familie. Obwohl es in „Sterben“ sehr explizit um die Mitglieder meiner Familie geht, wollte ich nicht einmal das. Mir ging es um das Annähern an diese Dinge, wie in einer Spurensuche. Ich wollte lauter Dinge schreiben, die entweder erlebt sind oder imaginiert. Ich wollte nichts Recherchiertes, ich wollte einen Film machen, den man nicht googeln kann. Ich habe es mir selbst verboten, Google zu verwenden, ich wollte nichts nachsehen, nichts überprüfen, nichts verifizieren. Keinen Moment in dem Film, keine Szene, kein Bild kann man recherchieren. Nichts ist journalistisch, alles ist Kunst. Oder Auto-Fiction, wie man das heute nennt. Das ist der Urkern, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen würde, weder in der Geschichte, die erzählt wird, noch bei der Umsetzung. Bis zum Ende war und blieb es ein Experiment, auch ein Spiel, ein Gambit mit mir selbst: Wohin führt das? 

„Ich wollte einen Film machen, den man nicht googeln kann“

Dann frage ich das doch gleich: Wohin führte es?

Matthias Glasner: Nachdem ich die 200 Seiten geschrieben hatte, fühlte ich mich gut. Ich mochte es. Aber ich dachte mir auch: Naja, irgendwie Chaos und auch verrückt privat. Ich wusste nicht recht. Und legte das Drehbuch ungefähr ein Jahr beiseite, weil ich ohnehin Verpflichtungen hatte, und habe erst einmal „Das Boot“ gedreht. Dann habe ich das Buch zuerst meiner Freundin zum Lesen gegeben, danach meiner Agentin und meinem Komponisten, Lorenz Dangel. Weil mir ganz klar war: Musik würde eine wahnsinnig wichtige Rolle spielen. Da musste man sofort auf einer Wellenlänge liegen. Ich habe Lorenz gesagt: Sollte der Film jemals gedreht werden, ist dein Beitrag essenziell. Denk am besten jetzt schon einmal darüber nach. Die Reaktionen waren dann meist positiv, womit ich gar nicht gerechnet hatte, weil ich wirklich kein Gefühl dafür hatte, ob dieser so persönliche Stoff abseits aller Regeln funktionierte. Es fühlte sich einfach gut an. Die Reaktionen gaben mir eine innere Ruhe, dass ich den nächsten Schritt gehen und sagen konnte: Gut, wer könnte darin spielen, wer könnte das produzieren, wer gibt dafür Geld? Wenn sich das alles ergibt, mache ich den Film. Und wenn es nicht passiert, weil mir gesagt wird, das sei viel zu privat, das interessiere niemanden, dann mache ich ihn nicht. Das war okay. Es war nur immer klar: Entweder mache ich ihn so, ohne Zugeständnisse, ohne Kompromisse, oder ich mache ihn nicht. Ich war ganz vorsichtig, überhaupt irgendetwas im Buch ändern zu wollen, zu verbessern. Wenn ich es doch gemacht habe, habe ich es in den meisten Fällen später wieder in die originale Form zurückversetzt. Ich hatte ein regelrecht metaphysisches Gefühl zu diesem Ur-Skript, das in diesem blöden Coffeeshop entstanden und einfach so aus mir herausgeflossen war. Irgendetwas sagte mir, dass es genau deswegen gut war, mit all seinen Fehlern und nicht immer zu Ende gedachten Themen. Das lass ich mal so. 

Die Produzenten sahen das dann auch so?

Matthias Glasner: Meine Produzenten, Jan Krüger von Port-au-Prince und Ulf Israel von Senator Filmproduktion, haben mich immer unterstützt. Selbst als ich einmal in einem Moment der inneren Krise zu Ulf gesagt habe, ob es nicht besser sei, vielleicht doch einen Dramaturgen mit ins Boot zu holen, um mit dem zu reden, winkte er sofort entschlossen ab und meinte: Nein, Matthias, wir lassen das alles so, wie es ist. Auch der Verleih hat gesagt: Drei Stunden Länge? Okay, kein Problem. Es war eine tolle Erfahrung, absolut außergewöhnlich, in dieser Form den Rücken gestärkt zu bekommen bei einem Projekt, wo gar nicht klar war, ob da am Ende wirklich ein richtiger Film dabei herauskommen würde. 

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Matthias Glasner mit seinen Stars bei der Vorstellung von „Sterben“ auf der Berlinale (Credit: Imago / snapshot)

Können Sie selbst bereits für sich sagen, was „Sterben“ ausmacht?

Matthias Glasner: „Sterben“ hat nichts Reißbrettartiges, weil er zu keinem Zeitpunkt am Reißbrett entstanden ist. Er folgt keiner gängigen Dramaturgie, ist überhaupt nicht so gebaut. Es ist ein klassisches Slice-of-Life-Movie, der einer Gruppe von Menschen einer Weile beim Leben zusieht, sie beim Leben verfolgt. Das ist eine Art von Film, wie ich sie selbst sehr mag. Der Ansatz, den ich von Anfang an verfolgt hatte, zog sich durch alle Stationen der Produktion, insbesondere beim Dreh. Ich wollte Leben einfangen. So habe ich das immer gesagt: Ich will Leben einfangen. Das Drehbuch war für uns wie eine Landkarte, auf der alle Stationen markiert waren. Den Dreh habe ich empfunden wie ein Roadmovie, eine Reise durch das Drehbuch, das ich geschrieben hatte. Wir haben mit einem sehr kleinen Team gearbeitet, ein Mindestmaß an Ausstattung. Wir wollten die Dinge immer so nehmen, wie sie sind. Ich habe das Szenenbild verrückt gemacht, weil ich mich immer gesperrt und nein gesagt habe, wenn es irgendwo eine Verbesserung vornehmen wollte. Wenn es hässlich war, war es eben hässlich. Das musste so bleiben. Leben. Das wollen wir jetzt machen. Wir haben jetzt drei Monate Drehzeit und sehen den Schauspielern beim Leben zu. 

Wie ging das vor sich?

Matthias Glasner: Sie sollten explizit nicht spielen, sondern die Situationen leben. Deshalb haben wir auch nicht wirklich gearbeitet an den Szenen, weil ich als Regisseur nicht korrigierend eingegriffen habe. All den Dingen, die man macht, wenn eine handwerklich sauber aufgesetzte Geschichte erzählt wird, haben wir uns verweigert. Wir haben immer mit zwei Kameras gedreht und sind mit diesen beiden Kameras zusammen mit den Schauspielern durch diese Szenen gegangen, wir haben sie einfach durchlebt. Wir haben nichts geprobt, das Licht war immer natürlich, wir haben praktisch keinen einzigen Scheinwerfer aufgestellt, es gab keine Stative. Die Schauspieler sind das wunderbar mitgegangen. Die Kommunikation war so zurückgenommen wie möglich, wir haben nicht über den Film gesprochen. Ich habe sorgfältig gecastet und wusste: Die Schauspieler haben alles verstanden, ich muss ihnen nichts mehr mitgeben. Jetzt leben wir das. Es gab keine Anspannung. Die Drehtage waren kurz, sechs bis acht Stunden. Ich wollte keinen Stress, es sollte sich nie nach Arbeit anfühlen. Wir haben stringent ohne Mittagspause gedreht. Abends sind wir zusammen essen gegangen, nachdem die letzte Klappe des Tages gefallen war. Da haben wir geredet. Übers Essen, über Politik, über die Welt, über das Leben. Fast nicht über den Film. Aber wir haben uns ausgetauscht. Es macht viel aus, wenn man miteinander redet. Das war der Rhythmus beim Dreh dieses Films. Saskia Rosendahl hat irgendwann einmal gesagt, dass sie es so empfinden würde, als herrschte eine fast heilige Stimmung: „Wir gehen das so durch, es ist überhaupt nicht so wie normales Filmemachen.“

„Drehen als Wahrheit. Man geht nicht zur Arbeit. Jeder Tag ist ein Abenteuer, ein Roadmovie.“

Was sehen Sie als Vorteil bei dieser ungewöhnlichen Form des Arbeitens?

Matthias Glasner: Für die Schauspieler ist es immer schön, weil sie merken: Ich vertraue ihnen und ich gebe ihnen Raum, zu machen und zu tun, und bin trotzdem immer da, immer ansprechbar, wenn es Verständnisfragen gibt. Ansonsten halte ich mich zurück. Schauspieler mögen es, wenn es spontan ist, wenn sie sich nicht eingeengt fühlen. Wenn ein bisschen Chaos herrscht, einfach draußen drehen, mitten auf der Straße. Wenn sie über eine Straße laufen wollen, dann machen sie das auch. Das ist eine Methode, die mir viel Spaß macht und den Schauspielern auch: Kontrolliertes Chaos nenne ich das. Das liegt mir, ich habe das bei „Sterben“ nicht zum ersten Mal gemacht. Ich habe die ersten vier Folgen der Serie „KDD“ gemacht und dabei mit den Schauspielern die gesamte Ästhetik der Serie erfunden. Da sind wir auch so vorgegangen. Die Kamera ist ein Reportageteam, sie ist wie zufällig dabei. Dabei wird bei Schauspielern eine große Energie frei, große Schaffenskraft. Den Produzenten macht dieses Vorgehen eine Heidenangst, aber die Schauspieler sind beflügelt, und das zählt. Drehen als Wahrheit. Man geht nicht zur Arbeit. Jeder Tag ist ein Abenteuer, ein Roadmovie. Man muss immer gucken, was heute geht, was heute passiert, was man heute entdeckt. 

Das Drehbuch ist aus Ihnen herausgeflossen, wie Sie sagen. Das legt die Vermutung nahe, dass die ersten Figuren, die Sie hatten, die Eltern waren. 

Matthias Glasner: Zuerst wollte ich einen Film nur über meine Eltern machen, das Sterben meiner Eltern. Doch beim Schreiben erschien es mir unehrlich, wenn ich selbst nicht vorkommen würde, weil ich ein großer Teil dieser Geschichte bin, und wie ich über meine Eltern denke eben viel auch damit zu tun hat, was aus mir geworden bin. Dann kam ich dazu und habe mich auch zum Thema gemacht, ganz spontan. Ich habe mir überlegt, wie weit ich dabei gehen sollte, wie ehrlich ich sein musste. Die erste Überlegung war, diese Figur ebenfalls einen Regisseur sein zu lassen, fand es dann aber anmaßend. Weil es ein Künstler sein musste und ich früher tatsächlich lange überlegt hatte, ob ich Musik studieren und einen Berufsweg als Dirigent einschlagen sollte, habe ich mich dafür entschieden, die Figur einen Dirigenten sein zu lassen. Das ist mir sehr nahe. 

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Es geht ans Eingemachte in „Sterben“ (Foto: Jakub Bejnarowicz, Port au Prince. Schwarzweiss, Senator)

Die Schwester ist eine weitere Hauptfigur.

Matthias Glasner: Ich habe tatsächlich auch eine Schwester. Aber zu ihr habe ich seit dem Tod meiner Mutter keinen Kontakt mehr. Weil das so ist, wollte ich sie nicht benutzen und ließ ihre Person raus aus dem Film. Weil sie in der Dynamik zwischen mir und meinen Eltern aber durchaus eine Rolle spielt, wollte ich doch eine kleine Schwester in dem Film haben, die sich auch um die Eltern kümmern könnte, es aber nicht tut. Ich habe eine völlig fiktive Figur aus ihr gemacht, die eine andere Seite von mir spiegelt. Die Schwester ist der Mensch, der auch aus mir hätte werden können, wenn ich kein Regisseur geworden wäre. Auch wollte ich nach „This Is Love“ das Thema Alkohol noch einmal berühren, weil ich ein großer Fürsprecher des Alkohols bin. Ich sehe das so wie Loriot in Abwandlung seiner Mopsgeschichte: „Ein Leben ohne Alkohol ist möglich, aber sinnlos.“ 

Das ist eine Haltung, mit der man heute durchaus auf Unverständnis stößt. 

Matthias Glasner: Natürlich stelle ich nicht in Abrede, dass Sucht schlecht und nicht erstrebenswert ist. Das ist so. In „Sterben“ wollte ich aber noch einmal die altmodische Punkattitüde aufleben lassen zu sagen: Es ist völlig in Ordnung, ein selbstzerstörerisches Leben zu führen, wenn man den Eindruck hat, es ist richtig für einen. Nicht jeder muss ein funktionierendes Rädchen im System sein. Es ist völlig in Ordnung, es nicht zu sein. Es ist auch völlig in Ordnung, dafür in Kauf zu nehmen, früher zu sterben oder krank zu sein. Man kann sich dafür entscheiden. Was Alkohol und Drogen mit einem machen, hat weniger mit dem Alkohol und den Drogen zu tun als mit uns Menschen. Drogen und Alkohol gibt es. Das wird sich nicht ändern, wir werden es nicht verhindern können. Die Welt hat diese Möglichkeit erschaffen, und wir werden sie benutzen. Wie wir damit umgehen, ob wir daran zugrunde gehen oder nicht, das liegt an uns selbst. Der Mensch selbst hat das Recht, das für sich zu entscheiden. Ein Aspekt, der mich interessiert hat, war zu versuchen, einen Film zu machen, in dem Alkohol eine Rolle spielt, ohne dass der Alkohol als böse verteufelt wird. Gleichzeitig liegt es mir fern, für diese Lebenshaltung zu werben. Ich will es einfach nur zeigen, will einen Menschen zeigen, der das Leben mit Alkohol liebt, mit allen Widrigkeiten, die sich daraus ergeben. Das nimmt für die Schwester einen Weg, der nicht schön ist. Sie sagt das in der Regenszene auch ganz deutlich – das war mir wichtig, weil man es sonst nicht versteht. Es ist unheimlich schwer, diese Vorurteile und diese Mauer aus Denken zu durchbrechen, wo man lapidar die Haltung vertritt: Alkohol ist schlecht; wer davon nicht loskommt, der tut einem leid und ist gescheitert. Ich halte es mit Matt Dillon, der in „Drugstore Cowboy“, einem der ehrlicheren Filme zu dem Thema, sagt: „I like drugs, I like the whole lifestyle.“ Tatsächlich habe ich diesen Satz Lilith Stangenberg als direktes Zitat in den Mund gelegt. 

„Hope is not in the piece itself but in the fact that we are doing this together. Daran glaube ich zutiefst, das ist die Kernaussage über mein Verständnis von Filmemachen, von Kino.“

Zwei weitere Figuren sind elementar in „Sterben“ – erst einmal der Zahnarzt, gespielt von Ronald Zehrfeld…

Matthias Glasner: Wenn man sein erstes Kind bekommt, hört man immer wieder, man müsse unbedingt ordentliche Zähne haben, weil die Bakterien im Mundraum für kleine Kinder ein großes Risiko darstellen. Bei mir war es so, dass ich 20 Jahre nicht mehr beim Zahnarzt gewesen war. Ich habe höllische Angst vor Zahnärzten. Aber jetzt musste ich. Auf Empfehlung war ich bei einem der edelsten Zahnärzte von Berlin, in dessen Praxis in Charlottenburg – super stylish, mit Blick über die ganze Stadt, wie in einem Science-Fiction-Film – jede der Zahnarzthelferinnen aussah wie ein Model, alle in einem schwarzen Kostüm und extrem attraktiv. Über Wochen musste ich immer wieder hin, an die 20 Besuche. Jedes Mal, wenn ich bei ihm im Zahnarztstuhl saß, hat er über mich hinweg mit seiner Helferin geflirtet. Mit der Zeit kannte ich ihre ganze Geschichte, er aus München, seine Familie immer noch dort, er zur Arbeit in Berlin. Noch während ich das miterlebt habe, wusste ich, dass ich das irgendwann in einem Film einbauen würde. So kam es zu dieser Figur. 

Und dann noch der beste Freund des Sohnes, ein Komponist, gespielt von Robert Gwisdek – was uns langsam auch zur Musik bringt, die eine so zentrale Rolle in dem Film spielt. 

Matthias Glasner: Es hängt alles miteinander zusammen. Als ich beschlossen hatte, mich selbst auch zum Thema machen zu müssen, wenn ich einen Film über meine Eltern machen würde, dachte ich, dass ich auf diese Weise auch etwas verhandeln könnte, was mich schon lange interessiert. Ich wollte einmal in einem Film thematisieren, wie Kunst entsteht, und zwar vor allem Kunst, die in der Arbeit miteinander entsteht. Um die Magie des Augenblicks ging es mir. Was mich als Regisseur mehr umtreibt als alles andere, dem ich mehr hinterherjage als allem anderen, ist die Magie des Augenblicks. Das ist Kino. Wir machen etwas in dieser Choreographie, in diesem Wirken aus Zeit und Raum, ganz ähnlich wie in der Musik, die dem Kino da ganz nahesteht. Da ist ein Zeitfluss in einem Raum, Menschen zusammen machen etwas, dabei entsteht etwas, im besten Fall die Magie des Augenblicks. Die Historie des Kinos ist unfassbar voll von genau solchen Momenten, die oftmals gar nicht im Drehbuch standen – exemplarisch dazu nenne ich Robert De Niros berühmten Monolog in „Taxi Driver“ vor dem Spiegel; alles improvisiert, einfach vor Ort entstanden, einmal gemacht. Ich denke viel darüber nach, wie ich Dreharbeiten so gestalte, dass sich die Magie des Augenblicks einstellt. Das passiert nicht von selbst, man muss es erlauben. Oder wie Antonioni sagt: „Man muss die Studiotür immer einen Spalt weit offenlassen, damit das Leben hereinkommen und etwas passieren kann.“ Genau darum ging es: Wie fängt man das ein, wenn Menschen miteinander etwas entstehen lassen? Das war meine Maßgabe an Lorenz Dangel, meinen Filmkomponisten, mit dem ich davor schon bei „Blochin“ und „Landgericht“ gearbeitet hatte: Deine Aufgabe ist nicht nur, die Musik zu schreiben, sondern den Prozess, wie diese Musik entsteht, miteinzuarbeiten. Zwei Jahre haben wir an dieser Musik gearbeitet. Wir haben immer wieder neu angefangen und uns in allen möglichen Diskussionen bis hin zum Streit immer weiter angenähert, weil uns beiden Musik so sehr am Herzen liegt. Ihm war es wichtig, dass die Musik auch in einem akademischen Rahmen glaubwürdig ist. Uns fällt oft auf, wie Filme ganz klein und eng denken, wenn es um klassische Musik geht. Wir wollten, dass man die Musik in „Sterben“ ernstnehmen kann, eine ernsthafte, moderne Komposition, und sie gleichzeitig auch zugänglich für den Zuschauer ist. Er muss sie verstehen, er muss den Prozess nachvollziehen können. Wenn es zu abstrakt ist, zu avantgardistisch, dann kann ein Zuschauer unmöglich beurteilen, ob er gerade eine bessere oder schlechtere Version hört.

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Lars Eidinger und Matthias Glasner am Set von „Sterben“ (Credit: Peter Hartwig_ Port au Prince_ Schwarzweiss_ Senator)

Würden Sie zustimmen, dass die Orchesterszene mit dem Chor eine Schlüsselszene ist?

Matthias Glasner: Da sind wir dabei, wie die Musik entsteht. Irgendwann hatte ich den Einfall, es über die Entschleunigung der Musik zu machen. Das gefällt mir ohnehin. Der ganze Film ist ein Plädoyer für Entschleunigung. Für Ruhe, sich zu konzentrieren, etwas zu kucken und sich drei Stunden darauf einzulassen. Hier sehen wir zu, wie Menschen miteinander etwas entstehen lassen. Wir lassen das Stück immer langsamer spielen und steigern damit seine Intensität. An einem Punkt fragt der Komponist die Musiker, was sie wirklich von dem Stück „Sterben“ halten. Einer antwortet, es gefiele ihm nicht, weil es keine Hoffnung habe. Sowohl der Dirigent und der Komponist antworten identisch, das steht genauso auch im Drehbuch – es ist mir so wichtig, dass ich es sie doppelt sagen lasse: „Hope is not in the piece itself but in the fact that we are doing this together.” Daran glaube ich zutiefst, das ist die Kernaussage über mein Verständnis von Filmemachen, von Kino. Es bezieht sich in meinen Augen auch nicht nur darauf, Kunst zu machen, sondern auch für die Rezeption, Kunst zu erleben und aufzunehmen: ein Filmanzunehmen, ein Musikstück zu hören, eine Ausstellung zu besuchen, ein Buch zu lesen. Die Tatsache, dass wir als Menschen das tun, dass wir uns hinsetzen und einen Film machen, ein Musikstück komponieren, und andere sich hinsetzen und sich das ansehen oder anhören, darin liegt für mich die einzige Hoffnung. Dass wir uns interessieren. Dass wir kulturelle Menschen und sensibel sind, Dinge wahrnehmen wollen, uns entwickeln wollen, immer wieder neugierig sind und immer wieder etwas erleben wollen, weiterhin leben wollen. Darin liegt die Hoffnung. Das treibt mich an als Filmemacher. Man muss nichts gelernt haben, wenn man den Kinosaal verlässt. Ich habe keine Botschaft. Aber ich will etwas erschaffen, das ein Erlebnis ist, ein gemeinsames Erlebnis, das einen packt und schüttelt und berührt, man soll eine Lebenserfahrung gemacht haben, mit echten Menschen auf der Leinwand. 

Ein weiterer Schlüsselbegriff fällt in der zweiten Hälfte des Films, wenn Sie vom „schmalen Grat“ sprechen.

Matthias Glasner: Das ist etwas, womit sich wohl jeder Künstler auseinandersetzt. Wenn man ein Künstlerporträt macht, muss man das ansprechen. Ingmar Bergman hat am Ende seines Lebens gesagt: Das absolut größte Problem seines Lebens sei es gewesen, wie man das unter einen Hut kriegt – was er erzählen möchte und wie es auf der anderen Seite ankommt und wie man es erzählt, ohne die Absicht zu verfälschen und sich zu verbiegen. Es sei ihm niemals gelungen, dieses Dilemma zu lösen. Auch wenn ich es weniger drastisch formulieren würde, stimme ich ihm zu. Ich kenne dieses Gefühl sehr gut. Und wollte es unbedingt thematisieren, den schmalen Grat und dass man ihn nie trifft. Ich habe meinen Frieden damit insofern gemacht, weil ich gelernt habe, dass es unmöglich ist, Einfluss auf die Rezeption anderer Menschen nehmen zu können. Man kann nur versuchen, seine Vision so klar und unmissverständlich zu artikulieren. Danach hat man es nicht mehr in der Hand. Man macht einen Film, reist im Anschluss mit dem Film herum, nimmt an Publikumsdiskussionen teil und hört zu, was die Menschen zu sagen haben. Egal wie sie den Film schlussendlich finden, hat man als Filmemacher den Eindruck, dass sie über vieles reden, viele valide Punkte ansprechen, aber ganz selten über den Film sprechen, den man gemacht hat. Wenn ein Film fertig ist, gehört er einem nicht mehr – nur der Akt, ihn gemacht zu haben, den kann man mir nicht nehmen, der gehört mir. 

„Dialog soll man, so heißt es, im Kino immer knapphalten, er soll Mittel zum Zweck sein, die Handlung voranzutreiben. Film seien nicht Worte, sondern Bilder. Ich stimme nicht zu.“

Eine weitere Schlüsselszene: Mutter und Sohn allein am Tisch, die sich gegenseitig nichts schenken, schonungslos ehrlich zueinander sind – eine Szene, die Ozu ebenso viel schuldet wie Bergman.

Matthias Glasner: Es ist eine 20-minütige Szene, die wir in einer Einstellung gedreht haben und nur deshalb schneiden konnten, weil wir sie mit zwei Kameras gedreht haben. Eigentlich wird einem als Filmemacher beigebracht, man solle es nach Möglichkeit unbedingt vermeiden, Figuren sich genau das sagen zu lassen, was sie denken: Das macht man doch nicht! Aber genau das hat mich interessiert. Diese zwei Menschen sagen sich genau das, was sie denken. Und trotzdem ist es vielleicht nicht die Wahrheit, sondern nur dass, was sie gerade als Wahrheit ansehen. Es gibt Subtext, es gibt Interpretationsspielraum. Das muss man nicht eins zu eins sehen. Und doch ist es ein wahrhaftiger Moment, weil Mutter und Tochter die Deckung sinken lassen und ganz schonungslos offen zueinander sind. Ich fand das gerade in dieser Länge spannend. Es fasziniert mich, wenn Menschen miteinander reden, und finde es ebenso spannend, sie dabei zu filmen, wie sie miteinander reden. Dialog soll man, so heißt es, im Kino immer knapphalten, er soll Mittel zum Zweck sein, die Handlung voranzutreiben. Film seien nicht Worte, sondern Bilder. Ich stimme nicht zu. Ich mochte immer schon Filme, in denen geredet wird… die Filme von Eric Rohmer… „Mein Dinner mit André“ von Louis Malle. Ich mag das. Aber dann sollen sie auch wirklich miteinander reden und nicht einen Dialog austauschen, der eine Funktion hat. Es muss sich etwas entwickeln, wenn die Figuren reden, etwas muss sich verändern. Die Figuren dürfen am Ende des Gesprächs nicht mehr die gleichen sein. 

Was uns endlich zu Ihren Schauspieler:innen bringt, die über sich selbst hinauswachsen in diesem Film.

Matthias Glasner: Mit Corinna Harfouch habe ich seit Beginn meiner Karriere immer wieder gearbeitet. Für mich stand fest, dass sie meine Mutter spielen sollte. Das Verhältnis zu meiner Mutter war, wie man im Film sieht, war schwierig. Ich wollte ehrlich sein. Ich dachte, ich könnte ihr nur dann gerecht werden, wenn ich es so erzähle, wie es wirklich war. Corinna sieht meiner Mutter gerade in der unteren Gesichtspartie verblüffend ähnlich. Sie hatte auch etwas Strenges und Kaltes – Attribute, die man Corinna gerne unterstellt, auch wenn das von der Wahrheit nicht weiter entfernt sein könnte. Von all meinen Arbeiten mit ihr war dies die außergewöhnlichste. Corinna hatte sich zuerst schwergetan, die Rolle zu spielen, weil sie nicht begeistert davon ist, jemanden zu spielen, der stirbt. Sie ist der lebendigste Mensch, den man sich denken kann, so fit und wach in jeder Hinsicht, so neugierig. Sie hat etwas Kindliches in ihrer Neugier, was sie ungemein lebendig sein lässt. Zugesagt hat sie nur mir zuliebe, auch wenn es ihr nicht behagte. Unmittelbar vor dem Dreh hat sie sich einen Ruck gegeben. Am Abend vor ihrer ersten Klappe kam sie zum Essen dazu, trank ein Glas Wein und sagte: Ich hab’s mir noch einmal durchgelesen und erst jetzt verstanden, dass es ja auch eine Komödie ist. Ich freue mich jetzt, wir machen das. Sie hat sich dann förmlich verschwendet. Vor allem aber hat sie etwas Wichtiges gemacht: Sie hat meine Mutter gegen mich verteidigt, manchmal auch gegen das Buch und gegen meine Anweisungen. Sie hat mir immer gesagt: Matthias, ich mag diese Frau, ich verstehe sie. Wir müssen aufpassen, ich will sie auch beschützen gegen deinen Unmut. Es gibt nicht nur deine Wahrheit. Das hat sie ganz toll gemacht, hat ihr eine Würde gegeben, die sie verdient hat, absolut pur und uneitel gespielt. Ich ziehe meinen Hut vor ihrer Leistung. Ich kann nur noch einmal betonen: Die Szene am Tisch ist der erste und einzige Take, eine Kamera auf Corinna, eine Kamera auf Lars Eidinger. Wir haben vorher nicht darüber geredet, sie haben untereinander auch nicht darüber gesprochen. Danach war ich sprachlos. Beide waren großartig – alle Schauspieler waren großartig bei diesem Dreh –, aber dennoch war es Corinnas Szene. Es freut mich so, wenn Menschen das erkennen. Barbara Häbe von Arte sagte nach der Vorführung zu mir: „Ich wusste gar nicht, dass man so gut spielen kann.“ Ein schöner Satz. 

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Im Zentrum von „Sterben“ steht das Musikstück „Sterben“ (Credit: Peter Hartwig_ Port au Prince_ Schwarzweiss_ Senator)

War es hart für Sie, den Film zu drehen?

Matthias Glasner: Bevor wir mit dem Dreh angefangen haben, habe ich gemerkt, dass ich, speziell wenn es um meinen Vater ging, weinen musste. Ich war selbst perplex, konnte mir das gar nicht erklären. Es kann ja nicht wahr sein, dachte ich, dass mir jedes Mal die Tränen kommen, so kann man doch nicht arbeiten. Ich hatte Angst davor. Beim Drehen ist man dann als Regisseur viel einfach auch mit Handwerk beschäftigt, man muss laufend Entscheidungen treffen. Da gelang es mir besser, eine gewisse Distanz zu halten. Es hat mich sehr berührt, auch wie Hans-Uwe Bauer das spielt als mein Vater. Das ist so toll, wie er sich reingekniet. Er hat über Monate abgenommen, hat sich intensiv beschäftigt, wie man geht, wenn man Parkinson hat. Er hat die Rolle unheimlich ernst genommen. Dass sie verhältnismäßig klein ist, hat ihn nicht gekümmert. Es war insgesamt eine sehr ungewöhnliche Erfahrung, als würde ich mir selbst bei meinem Leben zusehen. Das Pflegeheim, in dem wir gedreht haben, ist das Pflegeheim, in dem mein Vater gestorben ist. Das Haus meiner Eltern war wirklich das Haus meiner Eltern. Als wir gedreht haben, standen Nachbarn auf dem Balkon, die meine Eltern gut gekannt hatten. Die standen da und mussten weinen. „Herr Glasner“, sagten sie, „das ist ja so, als wäre Ihr Vater wieder da.“ Hans-Uwe trug exakt die Klamotten, die auch mein Vater getragen hatte. Wenn du schon weißt, dass etwas stimmt, dann willst du es auch so drehen, wie es stimmt. In den meisten Filmen denkt man sich etwas aus und nähert sich dann an. Aber hier war alles konkret, alles ganz klar. Ich hatte es selbst erlebt. Dann stimmt jeder Tisch, jeder Stuhl, jede Hose, jedes Hemd, jeder Ort. Das ist schon sehr merkwürdig. Man fühlt sich seltsam. Mit normalem Filmemachen hat das dann nichts zu tun. 

Das Gespräch führte Thomas Schultze.