Holger Karsten Schmidt ist einer der fleißigsten und erfolgreichsten Drehbuchautoren in Deutschland. Ein Gespräch über das Wagnis, die kongeniale erste „Die Toten von Marnow“-Staffel fortzusetzen. Der lineare Start von „Finsteres Herz“ ist am Samstag im Ersten. Schmidt spricht auch darüber, weniger und noch ausgewählter arbeiten zu wollen.
In den vergangenen Jahren hat es nur eine Handvoll von Serien gegeben, nach denen man dachte: Ziemlich perfekt, genauso lassen, bitte keine zweite Staffel! Das galt für „Yellowjackets“, „Der Pass“, aber auch für Ihre „Toten von Marnow“. Warum forderten Sie ihr Glück mit einer Fortsetzung heraus?
Holger Karsten Schmidt: Ich habe mir ja schon meine Gedanken gemacht und mich nicht allein auf mein Glück verlassen. Den Anstoß zu dem Projekt hat Kiepenheuer & Witsch gegeben: 14 Monate nach der Ausstrahlung von Marnow 1, mit dem der NDR im linearen Fernsehen und der Mediathek zusammengenommen knapp 20 Millionen Zuschauer erreicht hat, trat der Verlag mit dem Wunsch an mich heran, eine Fortsetzung von „Die Toten von Marnow“ publizieren zu wollen. Für mich war Prämisse, dass man die Hauptfiguren Elling und Mendt auf eine neue, charakterliche Reise schicken kann. Sie sich also weiterentwickeln. Diesen Ansatz habe ich für beide gefunden.
Ihre zweite Staffel beginnt damit, dass das liebgewonnene Ermittlungsduo Elling und Mendt in der ersten großen Szene kaltgestellt wird und ein neues Duo im Fall zu ermitteln beginnt. Gleichzeitig erzählen Sie in Rückblenden auch das bewährte Duo weiter. Was fanden Sie an dieser Erzählstruktur reizvoll?
Holger Karsten Schmidt: Die elliptische Erzählweise. Wann gebe ich welcher Figur oder dem Publikum welche Information? Und wem enthalte ich sie wie lange vor? Eine Information auf der einen Ebene kann durch eine weitere auf der anderen Ebene plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Negiert werden. Ihre Bedeutung verändern. Und nur das Publikum kennt sie beide und man muss aufpassen, dass das den Hauptfiguren diesbezüglich nicht zu weit voraus ist. Ich fand es sehr reizvoll, als Autor dieses Mosaik aus Handlung und Charakteren zu kreieren, das für den Zuschauer auf diesen unterschiedlichen Ebenen, die hauptsächlich durch Greta Kasalo als Waisenmädchen Sarah miteinander verbunden sind, langsam an Kontur gewinnt. Ich wollte herausfinden, ob das mit all den Stellschrauben, an denen man da drehen kann, funktioniert. Ich arbeite nach den Notizen immer zuerst mit erweiterten Exposés, die 35 bis 40 Seiten pro Folge hatten. Mit den 120 Seiten fuhr ich dann zur Produktionsfirma und dem Sender. Zusammen schauten wir mit Regisseur Andreas Herzog drauf. Und alle waren der Meinung, dass das hinhaut. Es ist etwas Neues. Ich musste im Buch ganz konkret festlegen, wann wir von einer Zeitebene auf die andere wechseln und andersherum. Und wir mussten uns da alle einig sein, denn Andreas war damit später im Schnitt natürlich sehr eingeengt, weil er sich sehr eng dran halten musste.
Das neue Ermittlungsduo, das Sabrina Amali und Bernhard Conrad spielen, ist im direkten Vergleich mit den spektakulären Petra Schmidt-Schaller und Sascha Alexander Geršak eher farblos geraten. Warum?
Holger Karsten Schmidt: Leiser, ja. In der ersten Staffel hatten wir den korrupten Polizisten, der seine Frau über alles liebt, und auf der anderen Seite mit Petra Schmidt-Schaller eine wandelnde Tote. Ich wollte nicht zwei weitere Extreme dazu addieren. Außerdem hatten Petra Schmidt-Schaller und Sascha Alexander Geršak 360 Minuten Vorsprung beim Publikum. Für eine private Charakterzeichnung in der Tiefe von Marnow 1 hatten wir nicht den Raum. Der NDR hatte 6 x 45 vorgegeben. Blieb über den Daumen 3 x 45 pro Team. Damit das Geheimnis um Bernhard Conrads Dudek-Figur in „Finsteres Herz“ funktioniert, konnte ich dagegen weniger offen mit ihm agieren als zum Beispiel mit Elling in Staffel 1. Und Sabrina Amali ist als Figur neu in der Stadt und eine gute Polizistin, die versucht, der guten Seite der widerstreitenden Seelen in ihrem Ermittlungspartner Dudek zum Sieg zu verhelfen. Sie ist die aufrichtigste Ermittlerfigur im „Finsteren Herz“ und muss letztlich in ihrer wahrhaftigen Gradlinigkeit doch den größten Preis dafür zahlen. Aber sie macht das ohne viel Aufhebens. Dezent aber klar.
Einige der spektakulärsten Szenen der zweiten Staffel sind scheinbar einfache Familienszenerien zwischen Sascha Alexander Geršaks Elling-Figur zum Beispiel mit seiner Mutter oder seiner Tochter, Tischszenen, die in den Rückblenden den Alltag zeigen. Man merkt, wie gerne sie daran weitergeschrieben haben.
Holger Karsten Schmidt: Ja, es hat mir große Laune gemacht. Christine Schorn, die die Elling-Mutter spielt, ist auch ein großes Geschenk. Sie auf einem schmalen Grat zwischen comic relief und Tragik balancieren zu lassen. Das spielt sie auch so wunderbar. Und Elling, der sich gegen die Abschiede stemmt – auch gegen den von seiner Filmtochter Bianca Nawrath – und sie am Ende doch beide hinnehmen muss. Aber auch das Aufbrechen von Lona Mendt durch ihre Begegnung mit Sarah, wie dieses Kind diese praktisch tote Frau zurück ins Leben holt, das fein durchzutakten war eine erfüllende Arbeit.
Einer der augenfälligsten Unterschiede zwischen Staffel eins und zwei ist die klimatische Bedingung. Zeichnete sich die erste Staffel durch die lockere Sommerstimmung aus, die einen Gegensatz in den brutalen Morden fand, ist es jetzt winterlich kalt. War das schon so im Buch angelegt?
Holger Karsten Schmidt: Als sich der NDR über ein Jahr nach Marnow 1 für die Fortsetzung entschied, kam die Ansage, dass die Stoffentwicklung nur neun Monate dauern dürfe und dann gedreht werden muss. Für mich bedeutete das maximal drei Fassungen von sechs Büchern, also 18 Fassungen in neun Monaten. Und für Andreas und die Crew leider: Dreh in der Kälte. Regisseur Andreas Herzog und ich haben uns schnell mit der Situation angefreundet. Jetzt wieder im gelben, verschwitzten Look zu drehen, fühlte sich ohnehin nicht richtig an – warum nicht ins Gegenteil gehen?
Der „Finsteres Herz“-Roman erschien vor Ausstrahlung der zweiten Staffel. Worin liegen die Hauptunterschiede oder ist das alles sehr nah beieinander?
Holger Karsten Schmidt: Ich nehme aus den Drehbuchgesprächen mit, was bereichernd für den Roman ist und werfe in den Besprechungen Dinge ein, die ich für den Roman plane und für den Film auch Sinn machen könnten. Im Roman kann ich mehr in die Perspektive der Figuren eintauchen, Gedanken und Gefühle schildern, ohne dass es zum Beispiel durch eine Voice-Over aufdringlich wäre. Bei der Elling-Figur wird im Roman das Wolff-Parkinson-White-Syndrom diagnostiziert. Das Risiko auf einen plötzlichen Herzstillstand ist bei ihm deutlich erhöht. Dieses Damoklesschwert lässt ihn im Buch anders denken und handeln. Radikaler. Im Roman gibt es Suchmannschaften, Helikopter, eine Reise nach Sofia ins Waisenheim und einiges an Aufwand mehr, was mit dem Budget für die Staffel nicht leistbar war. Aber insgesamt sind Roman und Film schon nah beieinander.
Mit „Nord bei Nordwest“, „Harter Brocken“ und „Lost in Fuseta“ sind Sie der Drehbuchschreiber von drei der aktuell erfolgreichsten Reihen im deutschen Fernsehen. Wir sprachen bereits über den Erfolg von „Die Toten von Marnow“. Sehen Sie das auch als Ihre aktuell besten Jahre an?
Holger Karsten Schmidt: Ich habe in den letzten 30 Jahren über 120 Drehbücher und zehn Romane geschrieben. Meine beste Zeit besteht jetzt darin, dass ich mich in dem Sinne langsam aus der Filmlandschaft zurückziehe, in dem ich das Privileg nutzen werde, meine Lebenszeit auf wenige, ausgesuchte Projekte zu verwenden. Bei „Nord bei Nordwest“ habe ich den Kollegen Niels Holle, der mich schon seit Jahren entlastet. Das wird er zum Glück auch in Zukunft tun. Beim Format „Harter Brocken“ hat der Prozess der Stoffentwicklung dort aus meiner Sicht Luft nach oben, so dass ich die Folge für 2025 nicht schreiben werde. Bei „Nord bei Nordost“ habe ich der Produktionsfirma signalisiert, dass ich ab Episode drei nicht zur Verfügung stehe. Ich werde mich weiter auf die „Lost in Fuseta“-Romane konzentrieren, die ein bisschen zu kurz kommen. „Lost in Fuseta“ wird bei der Degeto mit der Produzentin Simone Höller weitergehen. Da wird 2025 der dritte Teil gedreht. Für RTL habe ich noch die Krimireihe „Morden auf Öd“ entwickelt, ebenfalls mit Simone als Produzentin an Bord.
Das wäre auch die Anschlussfrage gewesen, ob Sie jetzt RTL mit der Krimi-Reihe „Morden auf Öd“ auf Augenhöhe mit den Öffentlich-Rechtlichen führen wollen. Aber das klingt jetzt so, als ob Sie dort auch schon Pläne haben, das Projekt weiterzugeben.
Holger Karsten Schmidt: Das wird mir allein kaum gelingen – „Nord bei Nordwest“ war auch nicht gleich zu Beginn der Überflieger. Die ARD hat da langen Atem bewiesen und die Degeto uns mit guten Sendeplätzen versorgt, das ist ganz ausschlaggebend für den Erfolg einer Reihe. Plus die Darsteller und die Gewerke, Film ist eben Teamleistung. Die ersten beiden Teile „Morden auf Öd“ mit Richard Huber auf dem Regiestuhl und Paula Kalenberg und Max Hubacher in den Hauptrollen sind jedenfalls bereits gedreht worden. Die Stoffentwicklung mit der Redaktion war sehr angenehm, weil die das Format sofort begriffen, gewagt und gewollt und mir freie Hand gelassen hat. RTL hat auch vor Drehbeginn auf Grundlage der Drehbücher grünes Licht für die Stoffentwicklung von Teil 3 und 4 gegeben. Das zeigt das Vertrauen in das Format.
Warum wollen Sie sich mehr aus der Filmlandschaft rausziehen? Weil Ihnen zum Beispiel auch beim Bücherschreiben keiner reinquatscht?
Holger Karsten Schmidt: Guter Input, der meine Figuren und Geschichten besser macht, ist mir jederzeit willkommen. Auch ganz gleich, von wem der stammt. Die beste Idee hat da Vorfahrt. Und ich wäre ja ein schlechter Geschichtenerzähler, würde ich mein Drehbuch damit nicht bereichern wollen. Da gibt es tolle Momente. Es bedeutet auf der anderen Seite natürlich auch, dass ich meine Figuren vor schlechten Ideen schütze. Das kann bisweilen wiederum ermüdend sein. Die Entscheidungshoheit beim Schreiben eines Romans empfinde ich als unvergleichlich erholsam und schön. Das ist für mich wie Urlaub vom Drehbuchgeschäft. Mich langsam aus der Filmlandschaft zurückzuziehen, bedeutet lediglich, mich rarer zu machen und meine Zeit einfach mehr anderen Dingen als dem Drehbuchschreiben zu widmen.
Das Interview führte Michael Müller