Fünfteilige Miniserie von Booker-Prize-Gewinner Marlon James über eine Polizistin in Jamaica, die in den Fall einer verschwundenen 16-Jährigen involviert wird, der ihr schnell über den Kopf wächst.
FAST FACTS:
• Erste Fernseharbeit des gefeierten Schriftstellers Marlon James
• Harte Krimisaga aus Jamaica im Stil von „True Detective“
• Atmosphärische Dichte: die Kehrseite der Sonneninsel Jamaica
• Gütesiegel HBO: ambitionierte Unterhaltung für ein erwachsenes Publikum
CREDITS:
Land / Jahr: USA, GB 2024; Laufzeit: 5 x 45 Minuten; Showrunner: Marlon James; Regie: Tanya Hamilton, Annetta Laufer; Besetzung: Tamara Lawrance, Joe Dempsie, Gershwyn Eustache Jnr, Chyna McQueen; Plattform: Sky, Sky Now; Start: 3. Dezember 2024
REVIEW:
Zugegeben, SPOT ist kein Buchclub. Was einen aber nicht davon abbringen sollte, an jeder passenden (!) Stelle von „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ zu schwärmen, Marlon James‘ epochaler Roman rund um das Attentat auf Bob Marley im Jahr 1976, Gewinner des Booker Prize 2015, eine eindringliche, wütend und furios geschriebene Abrechnung über Gewalt und Kolonialismus in seinem Heimatland Jamaica. Wer diesen Marlon James vermisst haben sollte, der sich als Schriftsteller seither als Urheber eines afrikanischen „Game of Thrones“ hervorgetan hat mit dem auf drei Romane angelegten „Dark Star“-Erzählzyklus (bisher gibt es „Schwarzer Leopard, roter Wolf“ (2019) und „Mondhexe, Spinnenkönig“ (2022)), der wird jubilieren, dass der 1970 geborene Jamaikaner der kreative Kopf hinter der neuen, für HBO und Channel 4 entstandenen Miniserie „Get Millie Black“ ist, die ihn zurückführt in die harte Realität seiner Heimat.
Diese Krimigeschichte ist alt. Aber die Menschen schreiben sie jeden Tag neu. Sagt die Hauptfigur aus dem Off und kündigt damit an, dass sich Marlon James diesmal an einem Krimi versucht hat, dass man die Mechanik schon kennt, die Landkarte der Handlung: Verbrechen ist alt wie die Menschheit. Die einen begehen sie, die anderen versuchen sie aufzuklären. Was man vielleicht nicht kennt, ist eine andere Landkarte, die Landkarte der Geschehnisse, die Welt, in der die Verbrechen geschehen. Und diese Welt, Jamaica von unten, die beschreibt Marlon James wie kein anderer, die Schattenseiten der Sonneninsel. Hier macht er es in Form eines ganz persönlichen „True Detective“, eine Polizeibeamtin aus Jamaica, die aus London in ihre Heimat zurückkehrt, um sich um die Fälle vermisster Personen zu kümmern, aber auch um ganz eigene Dämonen der Vergangenheit zu konfrontieren, und ein Polizeibeamter von Scotland Yard, um aus nicht immer klar ersichtlichen Gründen ebenfalls involviert zu sein in einem Fall über ein 16-jähriges Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das sich mit einem der reichsten Jungen der Stadt eingelassen hat und jetzt unauffindbar ist.
Jede Episode der fünfteiligen Miniserie ist aus der Perspektive eines anderen Protagonisten erzählt und eröffnet so auf eine sehr literarische Weise neue Blickwinkel und Erkenntnisse, mehr und mehr setzt sich so eine Geschichte zusammen, die stringent ihre Handlung vorantreibt, aber eben auch Einblicke ermöglicht in ein Kingston, wie man es als Tourist wohl und hoffentlich nicht erlebt: ein Kingston des organisierten Verbrechens und Menschenhandels, der Sexarbeit und Prostitution, der Homophobie und exzessiven Gewalt. Es ist moderne Sklaverei, sagt eine der Personen in einer der späteren Episoden und legt den Finger in die Wunde, schlägt den großen Bogen zur Geschichte des Kolonialismus und Machtverhältnissen, die nur mit nicht immer legalen Mitteln aufrechterhalten werden können und in denen man nur dann nach oben kommt, wenn man bereit ist, ebenfalls nicht immer ganz legale Mittel einzusetzen.
Im Mittelpunkt steht die Titelheldin, gespielt von Tamara Lawrance, die man aus Steve McQueens „Small Axe“-Anthologie kennt und hier einen starken Eindruck hinterlässt. Millie Black ist eine getriebene Figur, gezeichnet von einer freudlosen Kindheit und dem Trauma, dass ihr Bruder spurlos verschwand, vermeintlich tot ist, tatsächlich aber, wie sie jetzt weiß, wo sie nach Jahren in England in die Heimat zurückkehrt, untergetaucht ist und seine Identität gewechselt hat: Orville ist jetzt Hibiscus, gespielt von Newcomer Chyna McQueen, und lebt am Rand der Gesellschaft, mit anderen Transpersonen und Transvestiten in einer Hölle, die sich „The Gully“ nennt, ein heruntergekommener Abschnit an einem Kanal, der regelmäßig von Schlägertrupps heimgesucht wird: Batty-Boy-Bashing. Mit Millie und ihren Sorgen und Nöten und ihrem Bedürfnis, eine gute Polizistin sein zu wollen, gute Polizeiarbeit zu leisten, gehen wir durch den Film. Sie ist der Anker, welche Volte die Handlung auch immer schlagen mag. Und welche inszenatorischen Untiefen die Geschichte auch immer erlebt. Die Regisseurinnen Tanya Hamilton und Annetta Laufer inszenieren stimmungsvoll und mit einem Blick für starke Bilder, aber gerade der dritten Episode sieht man an, dass in der Post massiv nachgearbeitet und neue Dialogzeilen eingefügt wurden: Nicht immer ganz rund, all das. Das Vergnügen an der Entdeckung leidet indes nicht: Wie sich diese fremde, ganz eigene Welt öffnet vor den Augen der Zuschauerschaft, das ist der wahre Reiz dieser kurzen Geschichte von so vielen Morden, dass man sie gar nicht mehr zählen kann.
Thomas Schultze