SmHJHX

Am Freitag, den 25.10. werden wir ab 15.00 Uhr bis ca. 18 Uhr umfangreiche technische Wartungsarbeiten durchführen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

REVIEW TALLINN: „Fishgirl“

Faszinierend-surreales Rätselspiel über eine junge Frau mit Amnesie, die ihren verschwundenen Liebhaber finden will, bevor sie ihn vergisst.

CREDITS:
O-Titel: Alucina; Land / Jahr: Ecuador 2024; Laufzeit: 105 Minuten; Regie & Drehbuch: Javier Cutrona; Besetzung: Jessica Barahona, Pablo Aguirre, Lucas Ortiz, Alejandro Bernal, Anahí Ruiz, Paula Fulton, Randi Krarup; Festival: Tallinn Black Nights Film Festival 2024

REVIEW:
Nun ließe sich ausgezeichnet argumentieren, dass alle Filme Werkzeuge wider das Vergessen sind: Sie halten Bilder, Momente, Gedanken, Ideen, Figuren für immer fest, auf dass sie nicht mehr verloren gehen können. In seinem Debüt erzählt der ecuadorianische Regisseur Javier Cutrona ein Rätselspiel mit surrealer Bildsprache über eine junge Frau, Camila, die an Amnesie leidet: Für den Zuschauer erschließt sich die Welt des Films vermutlich ebenso schwierig, wie die Protagonistin die Welt erlebt, die vor ihren Augen bisweilen förmlich zu zerfasern scheint. Wenn sie durch die Straßen geht, wird sie von einem riesigen Fisch begleitet. In ihrer Wohnung debattiert sie mit den Ameisen, die sich den Weg durch das Wohnzimmer hin zu einem Stapel alter Pizzakartons bahnen, den sie aufgehoben hat: Jeder einzelne ist mit einer handschriftlichen Botschaft versehen. 

Fishgirl  scaled e x
„Fishgirl“ von Javier Cutrona (Credit: PÖFF)

Weil Camila alles Mögliche zu entgleiten droht, auch ihr Verstand. Aber fest steht als entscheidende Größe in ihrem Leben die Liebe zu dem Jungen, der die Pizzas bringt. In seiner Gegenwart fühlt sie sich geboren, ergibt alles einen Sinn. Als er dann spurlos verschwindet, muss sie sich auf den Weg nach ihm machen durch ein Labyrinth nicht immer ganz einfach oder zumindest nicht mit zwingender Logik zu erklärenden Bildern, in denen der alte Hausmeister ihres Wohnhauses ebenso eine Rolle zu spielen scheint wie der Junge, der gegenüber von ihr wohnt und sein Gesicht bisweilen in einer Fetischmaske aus Leder versteckt. 

Fishgirl  scaled e x
„Fishgirl“ von Javier Cutrona (Credit: PÖFF)

Man muss sich einlassen auf die Traumlogik mit den beeindruckenden Landschaftsaufnahmen, Verweisen auf Meereswesen und Vampire, in diesem Film, der sich entschieden in sich selbst zu verschränken scheint und gar nicht vorhat, jede Frage zu beantworten, die sich im Verlauf der Handlung stellt. Das Unterbewusste sei wie die Seele, sagt eine der Figuren einmal, es könne durch Zeit und Raum reisen. Immer wieder gleitet die agile Kamera an Bücherrücken vorbei, die Geschichte selbst ist ganz literarisch in Kapitel eingeteilt. Die Büchse der Pandora heißt das fünfte Kapitel: Wie sehr sie sich für den Zuschauer öffnet, wird zunächst gewiss auch damit zusammenhängen, wieviel man bereit ist zu investieren in diese traumhafte Welt voller kräftiger Farben und starker Bilder.

Fishgirl scaled e x
„Fishgirl“ von Javier Cutrona (Credit: PÖFF)

Camila ist dabei wie Guy Pearce in „Memento“, eine Fremde im eigenen Leben, wenn es keine Erinnerung gibt, die einem Halt geben könnte – das „Fishgirl“, das wie ein Goldfisch alle paar Momente vergisst, was davor passiert ist. Weil sie den Verstand verlieren würde, wenn sie sich erinnern könnte, so schlimm ist das Trauma, das sie erlebt hat. Und das Regisseur Cutrona mit so viel Empathie und purer Bildergewalt aufblättert, dass man die Augen nicht von Hauptdarstellerin Jessica Barahona nehmen kann, die buchstäblich eine Reise ins Licht antritt, um sich selbst zu begegnen, in diesem Film wider das Vergessen, ein kosmischer Trip in die Tiefen des Unterbewussteins.

Thomas Schultze