Der gerade frisch für den Europäischen Filmpreis nominierte lettische Animationsfilm „Flow“ ist eine atemberaubende Angelegenheit geworden. Das auch für die Oscars gehandelte Werk von Shooting Star Gints Zilbalodis feiert heute seine deutsche Premiere bei den Nordischen Filmtagen.
FAST FACTS:
• Der Animationsfilm „Flow“ kommt mit hohen Weihen aus Cannes und Annecy
• Es ist der offizielle Oscar-Beitrag Lettlands und im erweiterten Favoritenkreis für die Kategorie Best Animated Feature
• Die Protagonisten des ohne Dialog auskommenden Films sind Tiere, die in einer apokalyptisch überfluteten, aber wunderschönen Welt zu überleben versuchen
CREDITS:
Animationsfilm; Originaltitel: Straume; Lettland / Frankreich / Belgien 2024; Laufzeit: 84 Min.; Regie: Gints Zilbalodis; Drehbuch: Matīss Kaža, Gints Zilbalodis; Produzent:innen: Matīss Kaža, Gints Zilbalodis, Ron Dyens, Gregory Zalcman; Produktionsfirma: Dream Well Studio; Weltvertrieb: Charades; Deutscher Verleih: MFA+; Weltpremiere: Cannes im Mai 2024; Deutsche Premiere: Nordische Filmtage am 6.11.24; Deutscher Kinostart: 2025
REVIEW:
Einer der atemberaubendsten und schönsten Animationsfilme kommt in diesem Jahr aus Lettland. Mit seiner zweiten Regiearbeit ist Gints Zilbalodis mit Hilfe aus Frankreich und Belgien ein echtes Kunstwerk gelungen, in dessen Mittelpunkt eine Katze steht, die vor dem Weltuntergang flieht.
Diese Geschichte, die nur unter Tieren spielt und völlig ohne disneyhafte Dialoge auskommt, lebt von einer ausgereiften visuellen Erzählsprache, einer bewegten Kamera und der Schönheit, wie die Animation die Natur, die Gezeiten und die Tierwelt einfängt. Wenn sich die Katze zusammen mit einem Wasserschwein auf ein vor sich her segelndes Boot begibt, wo sich nach und nach auch ein Hund, ein angeschlagener Vogel, und ein Lemur einfinden, um sich vor den flutartigen Wassermassen zu schützen, liegen Vergleiche mit der Arche Noah nahe.
Menschen sind in dieser Welt aber abwesend. Die Umgebung zieren zum Beispiel große Katzenstatuen. Auch leben im Wasser walartige Wesen von gigantischer Größe, deren majestätische Manöver zu den eindrucksvollsten Szenen des gesamten Films gehören. Auch wenn die sanften Riesen nochmal in ihrem Aussehen einen fantastischen Kniff obendrauf bekommen haben. Es ist ein Kino der Kontemplation und des Staunens, das nie langweilig wird, weil die Tiere vor immer neue Herausforderungen gestellt werden.
Und auch wenn die Tiere nicht vermenschlicht werden, sich eben mit ihren typischen Charakteristiken auf dem Schiff verhalten, kommt man nicht umhin, hier umgehend eine größere Metapher für die Menschheit drin zu sehen. Aber man kann auch einfach die Interaktion der Tiere genießen, wie sie sich letztlich gegenseitig beim Überleben helfen und wie „Flow“ von einer Welt erzählt, die zu schön ist, als dass sie untergehen dürfte.
Heutzutage ist die Animation zu fortgeschritten, dass sie schon sehr nahe am Fotorealismus dran ist. Die wahren Animationsmeister finden inzwischen aber ihren eigenen Stil, der in seinen Imperfektionen die wahre Genialität offenbart. Die Tiere in Gints Zilbalodis‘ Film sind zum Beispiel nicht bis ins letzte Detail wie in einem Pixar-Film animiert, wo man jedes einzelne Haar sehen kann. Aber „Flow“ besitzt einen eigenen, etwas kantigeren Animationsstil, der für diese Geschichte perfekt funktioniert.
Es ist eine dem Wortsinn entsprechende beseelte Animation, die im Geiste verwandt ist mit den Arbeiten eines Hayao Miyazaki. Im Zusammenspiel mit dem meditativen bis epischen Score ist das Ganze ein einnehmendes Kinoerlebnis, das seine Weltpremiere im Un-Certain-Regard-Wettbewerb von Cannes feierte und bereits beim Animationsfestival in Annecy zurecht hochdekoriert wurde.
„Flow“ wurde von seinem Heimatland Lettland als offizieller Oscar-Beitrag eingereicht. Aber eigentlich ist der Film auch ein echter Anwärter für die Oscar-Kategorie Best Animated Feature. Denn die unwahrscheinliche Mischung an Tieren auf dem Boot wächst einem ans Herz. Vom Charme und den sozialen Implikationen fallen einem auch die Bremer Stadtmusikanten als Assoziation ein, was geografisch fast treffend für die Nordischen Filmtage in Lübeck ist, wo der Film am heutigen Mittwoch seine deutsche Premiere feiert.
Michael Müller