Heute eröffnet der lettische Animationsfilm „Flow“ die 66. Nordischen Filmtage in Lübeck. Der Künstlerische Leiter Thomas Hailer spricht über den außergewöhnlich starken Jahrgang der baltischen Staaten, Ehrenpreisträgerin Kati Outinnen und Barrierefreiheit.
Die Nordischen Filmtage sind die Bühne und das Tor für skandinavische und baltische Filme in Deutschland. In welchem Zustand befindet sich dieses Kino 2024?
Thomas Hailer: Dem nordischen und dem baltischen Kino geht es gut. Es ist immer wieder eine Freude, diese Auswahl als Künstlerischer Leiter machen zu dürfen. Das sind alles Filmindustrien, die genau wissen, was sie tun. Sie haben ein gutes und dynamisches Verhältnis zum Nachwuchs. Die Menschen werden anständig filmisch ausgebildet und bekommen auch früh die entsprechenden Chancen. Schon erstaunlich, was für herausfordernde Stoffe Debüt-Regisseurinnen und -Regisseuren von der Industrie und der Filmförderung dort anvertraut wird. Es gibt viele Filmschulen, die auch ihre eigenen Handschriften entwickeln. Ich habe während der Covid-Pandemie hier angefangen und selbst in dieser Phase hatten alle einen Plan.
Was meinen Sie damit genau?
Thomas Hailer: Für sich genommen sind das sehr kleine Märkte, die hinsichtlich der Filmförderung und Nachwuchsförderung aber eine genaue Agenda haben. Im entscheidenden Moment wird dann mühelos und unkompliziert miteinander koproduziert – dadurch entsteht ein Momentum im Hinblick auf Budgets und Fördersummen. Vor zwei Jahren waren die baltischen Staaten Countries in Focus beim European Film Market in Berlin. Seitdem erhöhen die drei baltischen Länder ihren Output, auch was die Genrevielfalt angeht. Wir eröffnen die Nordischen Filmtage mit dem lettischen Animationsfilm „Flow“, zeigen aber auch den lettischen Film „Maria’s Silence“, der sich auf sehr besondere Weise am Stalinismus abarbeitet. Und dann findet sich in unserem Wettbewerb auch das litauische Debütwerk „Toxic“, das aus dem Stand in Locarno den Goldenen Leoparden gewann. Meiner Meinung nach greift das alles sehr gut ineinander.
Warum blühen die baltischen Staaten filmkulturell gerade jetzt so auf?
Thomas Hailer: Da kann ich nur spekulieren. Vielleicht ist es so, dass Gemeinschaften, die z.B. an den Außengrenzen unter Druck geraten, nur zwei Möglichkeiten haben: Entweder wird die Kultur abgewählt oder man gibt Gas bei der künstlerischen Vielfalt und sorgt dafür, dass das auf allen Ebenen sichtbar und präsent wird. In den baltischen Staaten wird die Situation mit der Ukraine und Russland auch nochmal deutlicher als im restlichen Europa betrachtet, weil dort alle wissen, was auf dem Spiel steht. Film wird immer auch als Statement für die Freiheit des Ausdrucks und unbegrenzten Erfindergeist und Schöpferfreude gesehen.
Als Künstlerischer Leiter sind Ihnen alle eingeladen Filme, Dokus und Serien lieb und teuer. Aber wenn Sie bei dem Programm besondere Highlights in den Fokus rücken müssten …
Thomas Hailer: Unseren Eröffnungsfilm erwähnte ich bereits. Wer „Flow“ nicht in Lübeck sehen kann: MFA+ bringt den Animationsfilm kommendes Jahr in die deutschen Kinos. Den sollte man sich nicht entgehen lassen, ein Meilenstein im Bereich animierter Spielfilm. Ich habe noch nie so gut Wasser animiert gesehen. Und es gibt viel Wasser in „Flow“, unglaublich, wie sie das hinbekommen. Zudem bin ich außer mir vor Vorfreude, dass die finnische Schauspielerin Kati Outinnen als Ehrenpreisträgerin in die Stadt kommt. Den Preis erhält sie am Eröffnungsabend. Sie hat fünf Filme im Gepäck, die sie selbst für die Hommage ausgesucht hat und will bei allen Publikumsgesprächen der Filme dabei sein. Das ist die Chance für das Publikum, eine Schauspielerin kennenzulernen, die mit minimalen Mitteln eine Weltkarriere hingelegt hat.
Der von Ihnen bereits zweimal erwähnte Eröffnungsfilm „Flow“ hat eigentlich auch ganz gut Oscar-Chancen. Nicht nur, weil ihn Lettland als offiziellen Oscar-Beitrag eingereicht hat, sondern weil er auch schon im erweiterten Favoritenkreis bei den Animationsfilmen gehandelt wird. Sie haben mit „Armand“ auch den norwegischen Oscar-Beitrag und mit „The Girl with the Needle“ ebenso den dänischen Oscar-Beitrag im Programm. Sehen Sie die Nordischen Filmtage auch als Sprungbrett?
Thomas Hailer: Die Filme sind bereits im vollen Anflug auf die Awards Season. Wir sitzen als Festival eher am Ende des Jahreszyklus. Das sind einfach Werke, die bei uns nicht fehlen dürfen, Oscar hin oder Oscar her. Sie besitzen eine Wucht und tragen zur aktuellen Debatte bei. Ich bin glücklich über die Mischung. Wir haben viele Oscar-Anwärter im Programm, die will das Lübecker Publikum auch sehen. Die Nordischen Filmtage sind ein Festival, das vom Publikum als Filmklub in den 1950er-Jahren als Aufschrei gegen die cineastische Langeweile des deutschen Nachkriegskinos gegründet wurde. Das Publikum ist aber auch bereit für Entdeckungen. Wir zeigen zum Beispiel „My Eternal Summer“, der gerade erst in San Sebastian Weltpremiere hatte. Den sehr liebenswerten und verschrobenen schwedischen Film „XXL“ über zwei Geschwister, die auf einen Roadtrip gehen, haben wir in Göteborg auf dem Festival entdeckt. Der läuft hier als deutsche Premiere. „Handling the Undead“ ist ein waschechter Zombie-Genrefilm – aber sehr zart und einfühlsam erzählt. Die Nordischen Filmtage sind ein Ort, wo die Werke, die das Jahr über für Furore gesorgt haben, auf diejenigen treffen, die es noch zu entdecken gilt. Hier geht man ins Kino und kann später dann sagen: Ich war dabei, als die große internationale Karriere von dieser und jenem am Anfang stand.
Sie haben vor gar nicht allzu langer Zeit Ihren Vertrag als Künstlerischer Leiter bis 2026 verlängert. Welche Pläne und Verbesserungsideen haben Sie für die Zukunft oder sind die Nordischen Filmtage schon perfekt aufgestellt?
Thomas Hailer: Wenn man für eins nicht bezahlt wird, dann dafür, sich in irgendeiner Form zufrieden zu geben. Das Großartige an Lübeck ist, dass die Grundidee mit der Beschränkung auf bestimmte Länder von Anfang an da war und unkaputtbar ist. Dazu noch das Filmforum für Filme aus dem echten Norden, aus Schleswig-Holstein. Das ist es dann schon. Natürlich sind im Laufe der Jahre Serien oder immersives Kino dazugekommen. Aber die Konzentration auf genau diese Region ist vom Konzept so gut, wenn es das nicht schon gäbe, müsste man es erfinden. Darüber hinaus haben die Nordischen Filmtage wie alle anderen Festivals unglaublich dringende Aufgaben zu erledigen: Diversität, Inklusion, Barrierefreiheit und Digitalisierung. Für die Festivalleitung sind das riesengroße Themen, gerade die Barrierefreiheit.
Woran hakt es bei der Barrierefreiheit?
Thomas Hailer: Wir versuchen bei der Barrierefreiheit jedes Jahr eine Schippe draufzulegen. Trotzdem leben wir in Lübeck in einer historischen Stadt. Die meisten Gebäude, in denen wir sind, sind sehr alt und nicht gerade genuin barrierefrei. Da gibt es viel zu tun. Ein wichtiges Anliegen besteht auch darin, den Anschluss an die nächste Kinogeneration zu schaffen. Wir müssen schauen, wie wir Leute, die mit dem Handy aufwachsen, wieder mehr in die Kinos locken und auch für das Arthouse- und Independent-Kino begeistern können. Die Programme müssen in alle denkbaren Richtungen geöffnet werden.
Das Interview führte Michael Müller