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Sascha Keilholz, Leiter des IFFMH: „Eine Kultur des Miteinanders“

Dieses Jahr feiert das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg schon seine 73. Ausgabe. Wir haben mit Sascha Keilholz über die DNA dieses traditionsreichen Festivals gesprochen, wie es sich unter seiner Ägide verändert hat, das Engagement für Talente und warum das Filmekuratieren immer schwieriger wird.

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Sascha Keilholz (Credit: Florian Greiner)

Das diesjährige Festival ist das sechste unter Ihrer Leitung. Woran lässt sich Ihre Handschrift erkennen?

Sascha Keilholz: Das IFFMH verfügt über eine beeindruckende Tradition und hatte bis in die 1990er-Jahre hinein eine beachtliche Relevanz. Dann hat es sich sukzessive etwas isoliert, mit einem vielleicht nahezu introspektiven Blick. Wir haben diesen Blick wieder geweitet, die Tradition neu belebt, vor allem aber eine Kultur des Miteinanders etabliert – innerhalb des Teams, genauso jedoch innerhalb der Stadt- und Kulturgesellschaft. Mittlerweile ist das IFFMH ganzjährig in der Metropolregion präsent mit Projekten wie dem Open Air auf der BUGA, Lesungen von Matthias Brandt in Kooperation mit dem Enjoy Jazz Festival oder kürzlich der Caligari-Live-Vertonung durch Karl Bartos. Wir gehen in die Städte – nicht nur (aber auch) in die Kunsthalle und das Nationaltheater. Das IFFMH bespielt mittlerweile alle Kinobetriebe Mannheims und Heidelbergs. Genauso gehen wir mit unseren internationalen Gästen aber auch in die Synagoge, Moschee und Kirche, zeigen Kunst in den Quadraten, haben dort dieses Jahr ein Kurzfilmprogramm in Barber Shops und einem Tattoo-Parlour kuratiert. Neben diesem Kulturwandel ist es uns gelungen, das Programm kuratorisch wieder zu schärfen. Jeder einzelne Film ist handverlesen, das Programm als Ganzes bildet einen Resonanzraum und die verschiedenen Titel treten miteinander in einen Dialog. Dazu gehört auch die Retrospektive, bei der wir unter anderem von 35 Millimetern projizieren. Das IFFMH ist nun auf der internationalen Festivalkarte zurück – die euphorische überregionale Pressereaktion auf diese Profilierung des Programms freut uns genauso ungemein wie die Bestätigung vonseiten des Publikums vor Ort.

Die beeindruckende Tradition haben Sie angesprochen. Die Festivalgründung erfolgte 1952. In Ihren Worten: Wodurch unterscheidet es sich von anderen Festivals in Deutschland? Was macht es einzigartig?

Sascha Keilholz: Mittlerweile gibt es 430 Filmfestivals in Deutschland, die meisten entsprechend spezialisiert – auf Dokumentar- oder Kurzfilme, Genres oder bestimmte geographische Schwerpunkte. Viele größere Festivals zeigen Fernsehformate und generieren ihre Gäste größtenteils aus der lokalen Branche. Wir sind nach der Berlinale, die als A-Festival und mit dem European Film Market ihren völlig eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, das große Internationale Filmfestival in Deutschland. Wir zeigen nicht nur Filme aus allen Kontinenten, wir haben auch die entsprechenden Gäste bei uns. Was mit unserem Angebot vor Ort korrespondiert: Das Festival findet nicht isoliert in einer Location statt, sondern in allen Theaterbetrieben beider Städte und darüber hinaus. Wir veranstalten einen interkulturellen Tag, kooperieren mit der Jüdischen Gemeinde genauso wie mit der türkischen Community. Programmatisch konzentrieren wir uns dabei auf internationale Kinolangfilme. Mit einem Schwerpunkt auf den Nachwuchs, was sich unter anderem in unserem Wettbewerb niederschlägt, der erste und zweite Filme einlädt und prämiert. Aber auch im Cutting Edge Talent Camp, das Filmhochschulabsolvent*innen fördert. Was uns extrem antreibt, sind neben dem Publikumszuspruch die Reaktionen der internationalen Gäste. Die betonen immer wieder, fast unisono, unsere Leidenschaft für Film, aber auch unsere Herzlichkeit. Da trudeln sehr rührende Dankes-E-Mails ein, häufig mit wiederkehrenden Formulierungen, eine davon war „most welcoming Festival“. Das spiegelt vermutlich unsere Weltoffenheit und generelle Offenheit wider, insofern nehmen wir das gerne an.

„Wir denken das Festival komplett vom Programm her.“

Wie würden Sie das Publikum des IFFMH beschreiben? Und: hat sich das Publikumsgefüge nach Corona verändert?

Sascha Keilholz: Vor sechs Jahren hatten wir ein sehr homogenes Publikum. Daran wollten wir etwas ändern und bei den vergangenen beiden Ausgaben konnten wir schon deutliche Verschiebungen wahrnehmen. Unser Publikum wird insgesamt jünger. Es ist im positiven Sinne neugierig und lässt sich gerne auch mal auf Ungewöhnliches ein – Albert Serras „Pacifiction“ war bei uns jedes Mal ausverkauft, sodass wir noch eine Zusatzveranstaltung angeboten haben. Auch jetzt läuft sein neuer Film, „Afternoons of Solitude“, sehr gut im Vorverkauf.

Worin liegen die größten Herausforderungen für Sie?

Sascha Keilholz: Wir denken das Festival komplett vom Programm her. Wir unterliegen keinerlei Auflagen und wählen komplett die Filme aus, die wir sehenswert finden. So weit, so gut. Das Kuratieren wird aber sukzessive schwieriger, da zunehmend mehr Titel – und darunter sicherlich einige von besonders großem Publikumsinteresse – nicht für uns verfügbar sind. Häufig, weil sie bei Streamern laufen, die keinerlei Festivalauswertung anstreben. Bei Prestigeprojekten großer amerikanischer Verleiher gibt es in der Regel eine globale Strategie, in der nur A-Festivals eine Rolle spielen. Im vergangenen Jahr lief „The Zone of Interest“ auf keinem einzigen deutschen Festival. Jetzt kann man sagen, die Strategie ist voll aufgegangen, weil die Zuschauerzahlen beim Kino-Release hervorragend waren. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass da ein bestimmtes diskursives Potenzial nicht ausgeschöpft wurde.

Talentförderung wurde beim IFFMH immer schon großgeschrieben. Sie haben diesen Aspekt noch weiter herausgeschält und zB das Cutting Edge Talent Camp ins Leben gerufen. Wie hat sich dieses Angebot entwickelt? Wie wird es angenommen und von welchen Ergebnissen können Sie berichten?

Sascha Keilholz: Mit dem Cutting Edge Talent Camp betonen und vertiefen wir tatsächlich unser Engagement für Talente. Gleichzeitig ermöglicht es uns nochmal eine andere Bindung an diese Gruppe. Inzwischen ist das eine echte Erfolgsgeschichte. Die Einreichungen nehmen jedes Jahr zu und diesmal waren es über 70. Da waren großartige Künstler:innen mit anschließend sehr erfolgreichen Projekten bei uns, darunter Henrika Kull, Sophie Linnenbaum, Sara Sumna und Anna Roller. Stoffe wie „Drifter“, „Jupiter“ oder „Another German Tank Story“, die gerade auf Festivals zirkulieren, waren hier. Jetzt zeigen wir „Der Fleck“ von Willy Hans, den die großartige Produzentin Julia Cöllen bei uns eingereicht hatte. Mit ihrem nächsten Film, „Der Optimismus“, inszeniert von Steffen Goldkamp, wird sie im kommenden Jahr bestimmt für Furore sorgen. Ich bin jetzt schon Fan. Grundsätzlich gehen unsere Überlegungen in die Richtung, unser Festival noch durchlässiger für die Projekte des CETC zu machen.

Blicken wir ins Programm: Was sind Highlights? Gibt es Auffälligkeiten im Programm? Mit welchen Themen beschäftigen sich gerade die jungen Talente?

Sascha Keilholz: Eines meiner persönlichen Highlights ist „Olivier, Olivier“, den wir im Rahmen der Hommage Agnieszka Holland zeigen. Unser Gefühl ist, den haben wir wirklich aus der Versenkung gehoben. Und der hat es in sich. Ein Thema, das ebenfalls fast wie aus dem Nichts auftauchte, ist „Regretting Motherhood“. Da reicht die Bandbreite der Auseinandersetzung von einer Komödie wie „Nightbitch“ von Marielle Heller mit Amy Adams bis hin zu einem grenz- und genresprengenden Drama wie „Salve Maria“ von Mar Coll mit Laura Weissmahr. In einigen Filmen geht es um die prägende Erfahrung der Migration, beispielsweise in Said Hamichs „Across the Sea“. In den Kinematographien Osteuropas, Lateinamerikas und auch in manchen asiatischen Ländern gibt es seit einigen Jahren eine deutliche Auflehnung gegen patriarchale Strukturen. Das ist auch dieses Jahr spürbar. Und das zeigen wir gerne. Genauso wie das queere Kino eines Abdellah Taïa, einer enorm wichtigen Stimme für den arabischen Raum. 

„Das IFFMH will und soll natürlich Diskursraum sein.“

Auf welchen Festivals werden Sie am meisten fündig? Welche Festivals halten am ehesten die Filme bereit, die Sie dann aufs IFFMH einladen?

Sascha Keilholz: Das stellt sich tatsächlich in jedem Jahr etwas anders dar. Bei der vergangenen Ausgabe war Locarno für uns ganz wichtig, da gibt es wie bei uns eine große Offenheit für Experimentelles und Ungewöhnliches. Dieses Jahr haben wir einen Eröffnungs- und Abschlussfilm aus Toronto mitgebracht, da ist das Programm im Verhältnis zu Locarno etwas konventioneller, das kann auf solchen Positionen dann durchaus Sinn machen. Und Karlovy Vary hat diesmal einiges für uns bereitgehalten, das sind beispielsweise Titel, die nicht immer alle auf dem Zettel haben. In den vergangenen fünf Jahren hatten wir dreimal den Gewinnerfilm aus San Sebastián im Programm und meistens schon ausgewählt, bevor er dort eingeladen war. Da gibt es offensichtlich eine kuratorische Nähe. Der Kalender beginnt für uns mit Sundance und Rotterdam; Cannes und Venedig sind natürlich zentrale Veranstaltungen – da durchforsten wir die Nebensektionen.

Sie haben immer tolle Gäste, dieses Jahr erhält Lynne Ramsay den Grand IFFMH Award; Agnieszka Holland ist Ehrengast. Was bedeuten Ihnen diese beiden Filmemacherinnen? Auf was freuen Sie sich?

Sascha Keilholz: Wenn ich an die Beobachtungen zum Gesamtprogramm anknüpfe – da gibt es gezielten Ungehorsam, ein Aufbegehren. Kino als Form des Widerstands. Lynne Ramsay und insbesondere Agnieszka Holland sind gewissermaßen Patinnen dieses Kinos. Da geht es letztlich auch um die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Gleichzeitig ist es ein Kino der Grenzerfahrungen. Bei Agnieszka Holland sind es politische und geografische Grenzen. Lynne Ramsay wiederum repräsentiert den Widerstand gegen das Klassensystem. Sie verleiht den Unterrepräsentierten ein Gesicht, befördert sie aus dem sozialen Abseits auf die Leinwand. Sie taucht in psychische Ausnahmesituationen ein und holt das Unvorstellbare an die Oberfläche. Mit Lynne Ramsay über das gegenwärtige Kino, mit Agnieszka Holland über die gegenwärtige politische Lage Europas zu diskutieren, darauf freue ich mich.

Welchen Stellenwert haben die Rahmenveranstaltungen beim IFFMH? Wie gehen Sie hier bei der Themenauswahl vor?

Sascha Keilholz: Das IFFMH will und soll natürlich Diskursraum sein. Das hebt uns neben anderem von regulären Kinoformaten ab. Die Themen sind immer eng an das Programm gekoppelt, beispielsweise an die Retro. Da gibt es in diesem Jahr ein Panel mit Moshtari Hilal und Samuel Koch zur Repräsentation von Körpern im Film. Außerdem haben wir eine Schwäche für Tanztheater. Das schlägt sich an der einen oder anderen Stelle des Festivals nieder.

Zu guter Letzt: Was macht Ihnen bei der Festivalarbeit am meisten Spaß? Was am wenigsten? Und was wünschen Sie sich für die nächsten sechs Jahre?

Sascha Keilholz: Herausragend Spaß macht die inspirierende Arbeit in einem immens engagierten Team, die Filme, das Entdecken und Wiederentdecken, die Begegnungen mit den Künstler*innen. Mühselig ist zuweilen die Akquise der benötigten Mittel für Qualitätssicherung, Nachhaltigkeit, Inklusion und faire Bezahlung des Teams. Das wird gerade nicht einfacher. Für die nächsten sechs Jahre wünsche ich uns allen eine wehrhafte Demokratie, Kultureinrichtungen, die dazu ihren Beitrag leisten und dafür auch anerkannt werden.

Die Fragen stellte Barbara Schuster