Raffiniertes High-Concept-Erzählexperiment und Familiendrama von Hollywood-Altmeister Robert Zemeckis mit Tom Hanks und Robin Wright.
FAST FACTS:
• Wiedervereinigung der „Forrest Gump“-Stars und -Crew nach 30 Jahren
• Drehbuch von Zemeckis und Eric Roth (zuletzt „Killers of the Flower Moon“)
• Adaption der gefeierten Graphic Novel von Richard McGuire aus dem Jahr 2014
• Weltpremiere beim AFI Fest in Los Angeles
CREDITS:
O-Titel: Here; Land/Jahr: USA/2024; Laufzeit: 104 Minuten; Drehbuch: Robert Zemeckis, Eric Roth; Regie: Robert Zemeckis; Besetzung: Tom Hanks, Robin Wright, Paul Bettany, Kelly Reilly, Michelle Dockery; Verleih: DCM; Start: 12. Dezember 2024
REVIEW:
Robert Zemeckis hat Geschichte geschrieben, er hat zwischen 1980 und 2000 Meilensteine der amerikanischen Popkultur erschaffen, deren Namen jeder kennt, der schon einmal ein Kino betreten hat, Hollywoodklassiker, die man immer wieder gerne sieht, um dabei zu bedauern, dass Filme wie diese heute nicht mehr gemacht werden. Er hat die Relativitätstheorie im Blockbusterformat erklärt, Comicfiguren mit menschlichen Charakteren gepaart, Tom Hanks in Archivaufnahmen eines ganzen Jahrzehnts eingefügt, Jodie Foster durch ein Wurmloch geschickt, Meryl Streep den Kopf um 360 Grad verdreht und den Alterungsprozess gestoppt, als meisterhafter Erzähler und Vordenker auf dem Gebiet der Spezialeffekte. An welchem Ort auch immer heutzutage CGI, Motion Capture, De-Aging eingesetzt werden, man kann davon ausgehen, dass Zemeckis schon dort war. Seiner Zeit vorauseilen, trotzdem in Nostalgie schwelgen – Animation und Computertechnik machen es möglich, erlauben es dem Filmemacher, das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in allen Sphären und Genres zu erforschen.
Seine kreative Neugier hat ihn in den letzten zwei Jahrzehnten in unliebsame Richtungen abdriften lassen, „Der Polarexpress“, „Hexen hexen“, „Willkommen in Marwen“ waren trotz Starbesetzung eher Drahtseilakte als Crowdpleaser, die die Balance zwischen charakterorientierter Old-School-Erzählweise und digital bearbeiteter Schauspielerei nicht so recht finden wollten, und als Effekthascherei abgetan wurden. Nach seinem ebenso verunglimpften „Pinocchio“-Abenteuer bringt sich Zemeckis nun erneut mit einem filmischen Experiment ins Gespräch, das sich zum 30. Jubiläum seines sechsfach Oscar-prämierten Meisterwerks „Forrest Gump“ gut als Wiedervereinigung von dessen Cast und Crew verkaufen lässt.
Neben Zemeckis langjährigen Weggefährten – Kameramann Don Burgess, Komponist Alan Silvestri, Superstar Tom Hanks – wurden dafür auch Robin Wright und Ausnahme-Drehbuchautor Eric Roth zurückgeholt. Gemeinsam mit Roth adaptierte Zemeckis die sehr persönliche Graphic Novel des amerikanischen Musikers und Illustrators Richard McGuire, der 2014 mit seinem bahnbrechenden Werk „Here“ die traditionelle Lesart von Comics auf den Kopf stellte. In seinem preisgekrönten Buch unternimmt McGuire eine raffiniert vereinfachte Form der Zeitreise: Auf 300 Seiten verlässt er kein einziges Mal den einzigen Handlungsort, jedes Panel zeigt den immer gleichen Ausschnitt in einer bestimmten Epoche, in kleineren, darin eingefügten Rahmen werden Details des Ortes zu anderen Zeitpunkten dargestellt. Der Leser bewegt sich nicht durch den Raum, nur durch die Zeit, erlebt nicht die Geschichte einzelner Personen, sondern eines Fleckchens Erde auf diesem Planeten, von der Dinosaurier-Ära bis zurück in die Zukunft.
Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zum Konzept des Bewegtbilds aussieht, der im Kino scheinbar nur zur Quadratur des Kreises führen kann, ist für den Visionär Zemeckis eine Steilvorlage. Das Drehbuch folgt teilweise seitengenau McGuires Idee und Text, nie ändert sich der Blickwinkel der feststehenden Kamera, sie zoomt nicht, sie dreht sich nicht, und doch ist alles wie selbstverständlich in Bewegung. Kulissen und Requisiten wechseln sich ab, die Einblendungen von Details aus der Vergangenheit oder Zukunft, Symbole des Fort- und Rückschritts, die wie Fenster auf dem Desktop aufploppen, verbinden die Epochen, zwischen denen die Handlung hin- und herspringt. Ein Fernseher aus den 1960ern wird von einem Radio aus den 30er-Jahren überdeckt, ein moderner Saugroboter gleitet über die Szene, in der eine Frau mit einem Mid-Century-Elektrobesen hantiert, alles geschieht im Grunde genommen gleichzeitig an diesem Ort irgendwo in New Jersey, Anyplace, USA, der seit Äonen von Jahren existiert.
Hier bringt ein indigenes Paar (Joel Oulette und Dannie McCallum) ein Kind zur Welt, an der gleichen Stelle werden dessen Nachkommen zu Grabe getragen. Hier schimpft der Kolonialgouverneur William Franklin (Daniel Betts) circa 1770 über die radikale Politik seines Vaters Benjamin (Keith Bartlett), während er im Hintergrund eine imposante Villa erbauen lässt, die später durch das Fenster des Wohnzimmers zu sehen ist, in dem auch die Kamera steht – wenn man nicht die Vorhänge davor verschließt. In diesem Wohnzimmer, in dem Haus, das im Vorgarten der Geschichte errichtet wird und auf den Gräbern der Vorfahren, lebt am Anfang des 20. Jahrhunderts eine junge Mutter (Michelle Dockery), die fürchtet, dass der Pioniergeist ihres Mannes (Gwilym Lee) in einer Tragödie endet, weil er unbedingt als Pilot in den Krieg ziehen will. Mit Beginn der Goldenen Zwanziger vergnügt sich hier ein sexy Pin-up-Girl (Ophelia Lovibond) mit Bohemian-Freund (David Fynn), der den Prototyp des Fernsehsessels erfindet. Fast hundert Jahre später ziehen die einzigen nicht-weißen Bewohner (Nicholas Pinnock und Nikki Amuka-Bird) mitsamt lateinamerikanischer Haushaltshilfe (Anya Marco-Harris) ein, nachdem sie das Haus für einen „Schnäppchenpreis“ von einer Million Dollar erworben haben, durchleiden die Corona-Krise und müssen ihrem Teenagersohn (Cache Vanderpuye) erklären, wie er sich am besten verhält, wenn er von Cops angehalten wird.
Das Figurenensemble ist bis dahin eigentlich nur Teil von Kulisse und Staffage, denn vor allem leben hier in diesem Haus drei Generationen der Familie Young (!), was McGuires philosophische Betrachtung von Zeit und Raum auf der Leinwand in eine anrührende Familiensaga verwandelt. Das Drehbuch rückt die Romanze eines Paares in die Bildmitte, das sich hier als Teenager verliebt und gemeinsam erwachsen wird, um Tom Hanks und Robin Wright zur beständigsten Präsenz des Films zu machen, mal gealtert, mal verjüngt dank einer KI-gestützten Deepfake-Technologie, die auf Archivfotos der Schauspieler zurückgreift. Während Wrights Gesicht dadurch oft so flächig wirkt wie mit einem Beauty-Filter bearbeitete Selfies, sieht Hanks manchmal aus wie das Kind im Manne in „Big“, zwischendurch zerzaust wie in „Cast Away – Verschollen“, jedenfalls so jung, dass man Kelly Reilly und Paul Bettany durchaus für seine Eltern halten kann.
Als Rose und Al Young beziehen diese im Jahr 1945 das Haus, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen werden. Al wurde gerade aus der Army entlassen, er wird sein Kriegstrauma und die ständigen finanziellen Sorgen im Alkohol ertränken und nach dem Tod seiner Frau zum Pflegefall für seinen erstgeborenen Sohn, Tom Hanks’ Richard. Nach der Heirat mit seiner Highschool-Freundin Margaret wachsen auch dessen Kinder in der „Young residence“ auf, Richard wird den Traum von einer Künstlerkarriere unter den Verpflichtungen als Sohn, Ehemann und Vater begraben. Margaret hingegen wird sich zu keinem Moment damit abfinden können, für immer unter dem undichten, tropfenden Dach zu leben, und Robin Wright ist auch in dieser Rolle ganz Kind der Flower-Power-Generation, sie ist das kämpferische und träumerische Herz der Familie und des Films, zwischen dessen starren Wänden selbst ein Oscar-Preisträger manchmal etwas leblos wirkt. Es ist ihre Figur, die dem Geschehen Tiefe verleiht, die sich als einzige in diesem begrenzten Raum frei zu bewegen scheint, die nichts anderes will als hinaus in die Welt, raus aus dem Bildrahmen, bevor sie darin alt wird.
Während die Zeit verfliegt, Nationalfeiertage, Halloweens, Thanksgivings, Weihnachtsfeste, Kindergeburtstage, eine Hochzeit, fünf Todesfälle, Abschiede und Krankheiten wie in einer Endlosschleife aufeinander folgen, während Klapp- und Bügeltische, Lampen und Sessel hin- und hergetragen werden, rückt immer wieder wie in der ur-amerikanischen Sitcom ein Sofa vor die Linse – oder wahlweise eine Reihe von Stühlen, auf denen Tom Hanks und Robin Wright im hohen Alter noch einmal nebeneinander Platz nehmen wie auf der Parkbank in „Forrest Gump“. Statt einer Pralinenschachtel gibt es nur Erinnerungen an lustige und traurige Momente eines gemeinsamen Lebens, die sich schneller verflüchtigen und aus dem Blickfeld verschwinden, als es dem Zuschauer lieb sein könnte. Im Gegensatz zum Leser der Graphic Novel, der dazu ermutigt wird, hin und her zu blättern, um alle Details, Parallelen, Gleichzeitigkeiten zu erfassen, diesem charmant-ironischen Reim von Vergangenheit und Zukunft, ist das Publikum einem Split-Screen-Overload ausgesetzt, der auf Dauer etwas deprimiert.
Darüber tröstet auch der sentimentale Score von Alan Silvestri nicht hinweg, der einen davon überzeugen möchte, dass es sich um kuscheliges Wohlfühlkino im Sinne von „Forrest Gump“ handelt, an den so vieles erinnert, Cast, Crew, die Zeitsprünge, die Einbindung historischer Ereignisse – und die gesamte (missverständliche) Geisteshaltung. Der rebellischen Margaret droht ein sträfliches Schicksal wie Jenny Curran, die wenigen nicht-weißen Figuren sind stereotyp wie „Bubba“ Blue – oder als hätte man sie dem Skript nur deshalb hinzugefügt, um näher am Puls der Zeit zu sein. Es scheint Zemeckis auch hier mehr um das formale Experiment zu gehen, eben um eine Neuerfindung des Bewegtbilds. Es ist faszinierend, wie dieses umgesetzt wird, wie Produktions-, Kostümdesign und vor allem der Schnitt alles, was möglich ist, unternehmen, um Spannung und Abwechslung in die Sache zu bringen, deren gleichförmige Story und Charaktere dennoch nicht, nun ja, bewegen, weil man den Eindruck gewinnt, dass alles am digitalen Reißbrett entworfen wurde. Der Film ist wie das Land, wie das Haus, in dem er spielt, oberflächlich betrachtet so blendend und einladend, dass man darin für immer leben möchte, aber wenn man hinter die Fassade schaut, wird es unangenehm. Die Bewohner vergessen, verlieren das Gedächtnis, sind rückschrittig, verschließen die Augen vor der Geschichte, die immer präsent ist. Nichts bewegt sich vom Fleck, alles tritt auf der Stelle. Vielleicht ist dies einfach die bittere Erkenntnis, zu der Robert Zemeckis auf der Suche nach der verlorenen Zeit schließlich gekommen ist: Sein Blick in die Zukunft Amerikas hat ihn genau hierhergeführt, womit sich „Here“, wohlmöglich unbeabsichtigt, wie ein Statement zur Lage der Nation anfühlt. History repeats itself, here, there, everywhere.
Corinna Götz