Herausragende Verfilmung von Amy Liptrots Memoiren „Nachtlichter“ über eine junge Frau, die nach Jahren auf die Orkney-Inseln zurückkehrt, um die Trümmer ihres von Alkohol zerstörten Lebens aufzukehren.
FAST FACTS:
• Dritter Spielfilm „Systemsprenger“-Regisseurin Nora Fingscheidt
• Sensationell bewegende Darstellung von Hauptdarstellerin Saoirse Ronan
• Amy Liptrots Memoiren „Nachtlichter“ von 2016 waren ein Bestseller
• Top-3-Erfolg in den britischen Kinos; mehr als zwei Mio. Pfund Einspiel
• Weltpremiere beim Sundance Film Festival; außerdem Berlinale 2024
CREDITS:
Land / Jahr: Großbritannien, Deutschland 2024; Laufzeit: 118 Minuten; Regie: Nora Fingscheidt; Drehbuch: Nora Fingscheidt, Amy Liptrot, Daisy Lewis; Besetzung: Saoirse Ronan, Saskia Reeves, Stephen Dillane, Paapa Essiedu, Naomi Wirthner; Verleih: STUDIOCANAL; Start: 5. Dezember 2024
REVIEW:
Sie habe ihren Kompass verloren, sagt die Hauptfigur von „The Outrun“ auf halbem Wege – ein Geschenk ihres Vaters, das sie an einer Kette um den Hals getragen hat. Um weibliche Figuren, die ihren Kompass verloren haben, geht es zuverlässig im Kino von Nora Fingscheidt, zumindest bisher, ging es in „Systemsprenger“ mit Helena Zengel als Mädchen im rosa Anorak, das seine schiere Gewalt nicht kontrollieren kann, ging es in „The Unforgivable“ mit Sandra Bullock als Frau, der es nach der Entlassung aus dem Gefängnis unmöglich ist, wieder Teil der Gesellschaft zu werden, weil es ihr das Verbrechen verbietet, das sie begangen hat. Und geht es nun auch in der Verfilmung von Amy Liptrots Memoiren „Nachtlichter“ aus dem Jahr 2016, wieder eine Geschichte um das Streben nach Erlösung, um die Rückkehr ins Leben, um das Verlangen, wieder ein Teil sein zu können der Gemeinschaft, die uns Menschen aneinanderbindet, eine Geschichte buchstäblich von Heimkehr, an den Ort, von dem man kommt, an dem man sich befand, bevor man den Kompass verloren hat. Es ist Fingscheidts zärtlichster und hoffnungsvollster Film bislang, aber auch der am meisten zupackende und mit sich kämpfende.
In tausend Scherben ist Ronas Leben zersprungen, die wild verteilt auf dem Boden liegen, um wieder aufgekehrt und behutsam zusammengesetzt zu werden. Das ist der Rahmen von „The Outrun“. Und genau so ist auch der Film organisiert, tausend kleine Einzelteile, wild verteilt, die zusammengesetzt werden wollen, um ein ganzes Bild zu ergeben. Zunächst erscheint es beliebig, wie die Geschichte in winzigen Fragmenten in den Zeitebenen springt, in die Kindheit von Rona, in die Zeit ihres Absturzes in London, in die Gegenwart auf den schottischen Orkney-Inseln. Erst nach und nach erkennt man eine tiefere Logik, eine Organisation, versteht man, wie die Scherben zueinander gehören, wo man sich gerade befindet innerhalb der Struktur. Ronas Haarfarbe ist der Wegweiser durch das Chaos in ihrem Leben, erst Rosa, dann Blau, das Stück um Stück immer weiter herauswächst, schließlich knalliges Orange, eine Standortbestimmung, ein Zwischenergebnis, ein Signal.
Es gibt auch eine Zahl: 117. So viele Tage ist sie ohne Alkohol, als die eigentliche Handlung einsetzt, sie wieder am Ort ihrer Kindheit ist, wo alles begann, wo ihr als Mädchen vom bipolaren Vater (Stephen Dillane) und der sich in die Religion flüchtenden Mutter (Saskia Reeves) der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, ein Kind, das sich unter den Tisch flüchtet, wenn die Polizei auftaucht oder die Behörden, weil wieder einmal alles außer Kontrolle geraten ist. Unter einen Tisch flüchtet sich Rona später auch in London, als bei einem Clubbesuch wieder einmal sie außer Kontrolle geraten ist, die einmal hoffnungsvolle Meeresbiologiestudentin, die mit ihrem Suff ihr Studium ebenso aufs Spiel setzt wie ihre Beziehung zu dem liebevollen Daynin (Paapa Essiedu). Nach ihrer jüngsten Entgleisung steht sie vor dem Nichts und beschließt, dass sich die Dinge ändern müssen. Es gibt Rückfälle und ernüchternde Momente, und doch ist „The Outrun“ kein Trinkerdrama, kein „Die Tage des Weines und der Rosen“, kein „Leaving Las Vegas“. Wenn ein anderer, seit Jahren trockener Alkoholiker ihr gesteht, es gebe keine einfachen Tage, sondern nur Tage, die weniger schwer seien, dann meint der Film, den Nora Fingscheidt zusammen mit der Buchautorin Amy Liptrot geschrieben hat, das Leben als solches: Jeder Tag eine Herausforderung, jeder Tag ein Abenteuer, eine neue Suche nach Glück. „Nüchtern kann ich kein Glück empfinden“, sagt Rona entsprechend.
Wenn Rona aus dem Off erzählt, wie sie sich auf ihrer Reise zu sich selbst immer weiter in den Norden arbeitet, dann macht man sich im Kino die mentale Notiz, das hinterher auf der Landkarte selbst einmal zu überprüfen. Und tatsächlich: Die Orkney-Inseln sind der nördlichste Ausläufer Schottlands, diesseits von Thurso und Durness, ein aus mehr als 70 Inseln bestehender Archipel, am nördlichsten Zipfel die Westray-Inseln, deren nördlichster Ausläufer wiederum Papa Westray ist. Dorthin muss die Hauptfigur fliehen, an den ursprünglichsten, rausten, Wind und Wetter meistzerfurchten Ort, um dem eigenen Ballast zu entkommen, endlich Ruhe zu finden für eine Bestandsaufnahme. Es ist ein emotionaler Weg, den man mit ihr geht, so aufwühlend und wild wie die Landschaft, die sich vor den Augen des Zuschauers ausbreitet, eingefangen von der Kamera von Yunus Roy Imer, der schon für „Systemsprenger“ Bilder gefunden hatte, die das Innenleben der Figuren nach außen gekehrt haben (auch ihre damaligen Produzenten, die Weydemann Bros. sind als Koproduzenten wieder an Bord).
Nun ließe sich allein nach der Beschreibung des Inhalts ein kitschiges Drama vermuten, in dem ein verletzter Mensch wieder zu sich finden kann, indem er demütig lernt, eins zu sein mit der Natur, mit Gottes Schöpfung. Ein solcher Film ist „The Outrun“ nicht geworden. Zum Glück. Das ließe Rona nicht zu, diese widersprüchliche, widerspenstige Frau im stetigen Ringen mit sich selbst, und schon gar nicht ließe das, und jetzt kommen wir zum Wesentlichen, Saoirse Ronan zu, diese urgewaltige Ausnahmeschauspielerin, die niemals den einfachsten Impulsen nachgibt, immer dahin geht, wo ihre Figuren am schwierigsten sind, mit Worten am wenigsten zu greifen: eine Wissenschaftlerin, die nach spiritueller Katharsis strebt, nach einem Weg, die widerstrebenden Herzen in ihrer Brust einmal im Einklang schlagen zu lassen. Dem Film gelingt das am Schluss in einer kosmischen Sinfonie, die den Pfad zur Ur-Rona aufzeigt, das Kind, eingerahmt von der Rona davor, die betrunken und beglückt in einem Pub die singende Menge dirigiert, und der Rona danach, die in einem Moment der Vollkommenheit nüchtern und beglückt das tosende Meer zu dirigieren scheint, wie Zauberlehrling Micky Maus in „Fantasia“, die Agonie und die Ekstase, einen kurzen Augenblick vereint. Glück ist möglich, will aber jeden Tag aufs Neue erkämpft sein.
Thomas Schultze