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REVIEW KINO: „Alter weißer Mann“

Neue Gesellschaftskomödie von Simon Verhoeven über einen überforderten Familienvater, der im Sperrfeuer politischer Korrektheit unter Druck gerät und überfällige Entscheidungen zu Karriere, Ehe und Leben fällen muss.

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 114 Minuten; Regie & Drehbuch: Simon Verhoeven; Besetzung: Jan Josef Liefers, Nadja Uhl, Friedrich von Thun, Michael Maertens, Meltem Kaptan, Elyas M’Barek, Denise M’Baye, Yun Huang; Verleih: LEONINE Studios; Start: 31. Oktober 2024

REVIEW:
Herr Hellmich geht nach Wokington. Klare Sache, oder? Ja. Nein. Ganz so leicht macht es einem Simon Verhoeven nicht.

Wer seinen Film „Alter weißer Mann“ nennt und einen derart knalligen Titel als Ankündigung nimmt, sich unerschrocken mitten hineinzustürzen in das moderne Schlachtfeld gesellschaftlicher Befindlichkeiten, der weiß, dass er sich in einem Minenfeld bewegt, aus dem man ohne Blessuren kaum herauskommen kann. Im aktuell aufgeheizten Diskurs, in dem nicht nur jeder eine Meinung hat, sondern auch überzeugt davon ist, dass nur seine Meinung richtungsweisend ist, hat man als „alter weißer Mann“, der einen Film macht über einen „alten weißen Mann“, grundsätzlich schlechte Karten: Was erlaube Simon Verhoeven! Dabei schadet es nicht, die eigene Voreingenommenheit einfach mal zu prüfen wie sonst auch sein Privileg und sich erst einmal den Film anzusehen, bevor man schon wieder weiß, was man von ihm und seinem Filmemacher zu halten hat. Denn es gelingt Verhoeven auf wundersame, empathische und dabei sehr unterhaltsame Weise, eben genau das zum Thema seines Films zu machen: Es geht überhaupt nicht um die einzelnen Positionen, sondern um deren Rezeption. Um die Unmöglichkeit, im weißen Rauschen der in Beton gegossenen Überzeugungen und verhärteten Fronten überhaupt noch eine gemeinsame Grundlage für Dialog zu finden, in der man mit eben jenen einzelnen Positionen Gehör finden könnte. 

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Jan Josef Liefers und Nadja Uhl in „Alter weißer Mann“ (Credit: Leonine Studios)

Ein Film der Vermittlung will „Alter weißer Mann“ sein, ein Film, der Brücken schlägt und den verfeindeten Parteien die Hand zum Burgfrieden reicht. Und das nicht mit den Mitteln der Didaktik oder des erhobenen Zeigefingers, sondern der satirischen Überhöhung und des amüsierten Kopfschüttelns, dem liebevollen Blick auf die Menschen und nicht unbedingt ihre Meinungen, dem Bemühen um Verständnis und guten Willen und vor allem einer Botschaft: Beurteilt ein Buch niemals nach dem Umschlag. Simon Verhoeven hat kein Thesenpapier gemacht, der eine Haltung gegen die andere ausspielt, sondern einen ganz leichten Film in guter Komödientradition irgendwo zwischen Preston Sturges und Frank Capra, zwischen Billy Wilder und Howard Hawks. Mit Jan Josef Liefers als perfekt besetzter Titelheld, der Heinz Hellmich heißt, auch so aussieht und auf den ersten Blick auch so ist: ein idealtypischer deutscher Familienvater mit Schnauzer, weniger Heinz Rühmann als vielmehr Jack Lemmon in seiner Phase als überfordert-neurotischer Spießer mit Herz auf dem rechten Fleck in Filmen wie „Darling, laß dich scheiden“, „Nie wieder New York“ oder „Avanti, Avanti“, ein Nervenbündel (um noch auf einen weiteren Film mit Lemmon anzuspielen), das im Spannungsfeld zwischen Familienleben, Karriere und männlichem Selbstbild stets haarscharf am Nervenzusammenbruch vorbeizuschrammen scheint. Ein überforderter Mann, der sich selbst verliert im Bestreben, es im Beruf und im Privatleben allen rechtzumachen und mit der Zeit zu gehen, und damit auch den Boden unter den Füßen, ein bisschen wie der Major Tom in David Bowies „Space Oddity“, der abhebt und im Weltall verschollen geht – den Song hört man ganz am Schluss des Films, nachdem alle Schlachten geschlagen, alle Argumente gehört und sämtliche Meinungen vertreten wurden. 

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„Alter weißer Mann“ mit Jan Josef Liefers (Credit: Leonine Studios)

Bis dahin hat „Alter weißer Mann“ seinen Helden von der gestressten Gestalt einen weiten Weg zurücklegen lassen – und mit ihm die Zuschauer:innen, die lernen müssen, dass erste Eindrücke täuschen können. Weil Heinz Hellmich gerade zu Beginn eine lächerliche Gestalt sein mag, wie er versucht, mit dem Zeitgeist zu gehen, und doch in jedes Fettnäpfchen tritt, auf dem aktuelle Schlagworte wie Diversität, Teilhabe oder Identität stehen: Um in seinem Konzern den begehrten und überfälligen Posten im Vorstand zu bekommen und es seinem aalglatten Chef (diese Typen spielt Michael Maertens im Schlaf und besser wie jeder andere) recht zu machen, muss Heinz es jetzt eben besonders gut machen, zuverlässig begleitet von seiner von Meltem Kaptan mit Engelsgeduld gespielter Kollegin Frau Tüfek als ultimativer Sidekick (oder heißt es Sidekickin? Kleiner Kalauer). Wie er auch Zuhause gefordert ist, wo sich seine Frau Carla (großartig wie gewohnt: Nadja Uhl) in die innere Emigration der Gartenarbeit zurückgezogen hat und sich der Umgang mit den jugendlichen und fast schon erwachsenen Kindern als täglicher Spießrutenlauf erweist, weil es in deren Augen wenige uncoolere Dinge auf der Welt geben könnte als ihren Papa. Da ist ja sogar Opa Georg besser, der wenigstens geradeheraus zu seiner vermeintlich verkrusteten Weltsicht steht und dafür sogar eine eigene Partei gründen will, was sich als gar nicht so einfach erweist, wenn man keine eigene E-Mail-Adresse hat. 

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Simon Verhoevens „Alter weißer Mann“ mit Denise M’Baye, Michael Maertens, Yun Huang und Meltam Kaptan (Credit: Leonine Studios)

Schließlich läuft alles auf ein großes Abendessen im Haus der Hellmichs heraus, Nacht der langen Messer, Showdown, in dem alle Figuren und Parteien aufeinandertreffen und sich einen zunehmend eskalierenden Schlagabtausch liefern, bei dem sich so manche lieb gewonnene Position als nicht mehr länger haltbar erweist, andere indes von unerwarteter Seite auf überraschende Zustimmung stoßen. Keiner wird vorgeführt, keiner wird ausgelacht. Immer witziger wird die Angelegenheit, weil der Film auf gekonnte Weise den Zusehenden den Spiegel vorhält und man doch vor allem über sich und die aberwitzige Situation lachen muss. Heinz Hellmich hat bis zu diesem Zeitpunkt eine Höllenfahrt hinter sich, die es in sich hat, ihn von einer Erniedrigung zur nächsten, einer Enttäuschung zur anderen führt und von seinem Selbstverständnis von sich selbst nichts mehr übriglässt, ihm spätestens bei einem Trip nach Berlin zu seiner ältesten Tochter endgültig den Boden unter den Füßen wegzieht und ihn allein, isoliert und desorientiert auf einer Verkehrsinsel in Berlin-Mitte buchstäblich wachwerden lässt: Ground Control to Major Heinz, der unendliche Thrill, die Kontrolle verloren zu haben und niemandem mehr Rechenschaft ablegen zu müssen. Als er verspätet und in äußerlich desolatem Zustand zum eigenen Dinner erscheint, bietet sich ihm nun erstmals die Gelegenheit, er selbst zu sein und sich nicht mehr auf der Nase herumtanzen zu lassen.

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„Alter weißer Mann“ (Credit: Leonine Studios)

Mit „Willkommen bei den Hartmanns“, dem erfolgreichsten deutschen Kinofilm des Jahres 2016 mit knapp vier Millionen verkauften Tickets, war es Simon Verhoeven schon einmal gelungen, einen Nerv zu treffen mit der Aufbereitung brisantester Reizthemen in Form einer Gesellschaftskomödie. Schon dieser Film funktionierte vortrefflich als Standortbestimmung, als Ventil einer allgemeinen Stimmung, gefiltert durch den Blick einer liberalen Wohlstandsfamilie, in der jeder sich wiederfinden konnte. In „Alter weißer Mann“, der nur ein Jahr nach Verhoevens ambitioniert-gelungenem, aber an den Kassen glücklosem Milli-Vanilli-Film „Girl You Know It’s True“ folgt, wieder eine Produktion von Wiedemann & Berg, verfeinert er den Ansatz, erzählt sehr souverän und pointiert, in großen Kinobildern seines angestammten Kameramanns Jo Heim, und mit einem Humor, der gekonnt zwischen Schmunzeln und Schenkelklopfen changiert und als besonderes Bonbon einen Gastauftritt von Elyas M’Barek als König der Selbstoptimierung hat, der buchstäblich zum Abkühlen in die Regentonne gesteckt werden muss. Dass hier ein kritischer Blick auf Auswüchse politischer Korrektheit geworfen wird, der Film selbst aber wie selbstverständlich divers besetzt ist, unterstreicht seine Umsichtigkeit. Wenn mit den satirischen Spitzen niemandem wehgetan werden sollte, dann ist das keine Schwäche, sondern eine ureigene Stärke, weil man sich als Zuschauer:in unversehens auf der Seite genau der Figuren wiederfindet, die man anfangs eigentlich ausgemacht hatte als vermeintliche Feindbilder. Der Blick ist weltoffen und in bestem Sinne inklusiv. Nicht von ungefähr ist „Alter weißer Mann“ liebevoll Michael Verhoeven, dem im April verstorbenen Vater des Regisseurs, gewidmet. Am Schluss wird getanzt. Heinz Hellmich ist mittendrin. Denn sollte nicht die ganze Welt tanzen?

Thomas Schultze