Eindringliches Drama über den ersten Schweizer, der als Kollaborateur der Nazis 1942 hingerichtet wurde.
FAST FACTS:
• Große schweizerisch-deutsche Koproduktion über einen historisch verbürgten Fall während des Zweiten Weltkriegs
• Starke Regieleistung von Michael Krummenacher („Der Räuber Hotzenplotz“)
• Absolute Entdeckung: Dimitri Krebs in der Hauptrolle in seinem Leinwanddebüt
• Weltpremiere auf dem 20. Zurich Film Festival
CREDITS:
Land / Jahr: Schweiz, Deutschland 2024; Laufzeit: 112 Minuten; Regie: Michael Krummenacher; Drehbuch: Michael Krummenacher, Silvia Wolkan; Besetzung: Dimitri Krebs, Fabian Hinrichs, Luna Wedler, Stefan Gubser, Robert Hunger-Bühler, Flurin Giger; Verleih Schweiz: Ascot Elite; Start Schweiz: 24. Oktober 2024
REVIEW:
Einmal schon bewegte das Schicksal des Ernst Schrämli die ganze Schweiz: 1976 schlug der Dokumentarfilm „Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.“ von Richard Dindo und Niklaus Meienberg, basierend auf einem Tatsachenbuch Meienbergs, hohe Wellen. Als einer der engagierten und kämpferischen Schlüsselfilme des Neuen Schweizer Films rechnete er ab mit dem landesweiten Schweigen nach dem Zweiten Weltkrieg über die damalige Rolle der nach außen neutralen Eidgenossenschaft: Schrämli war der erste von insgesamt 17 Männern, der im November 1942 als Landesverräter wegen Spionage und Kollaboration mit den Nazis hingerichtet wurde – ein Bauernopfer, wie der Dokumentarfilm damals explosiv argumentierte, während man die Industriellen, die tatsächlich Geschäfte mit den Deutschen machten, in großem Stil Waffen ans östliche Nachbarland lieferten, gewähren ließ.
Fast 50 Jahre später steht Ernst Schrämli wieder im Mittelpunkt eines Films, eines Spielfilms diesmal, eine große schweizerisch-deutsche Koproduktion der Contrast Film (Ivan Madeo, Urs Frey, Stefan Eichenberger) in Koproduktion mit Amalia Film (Felix von Poser) und der Letterbox Filmproduktion(Michael Lehmann) sowie Gretchenfilm (Annegret Weitkämper-Krug) unter der Regie von Michael Krummenacher, der zuletzt mit seinem schönen „Der Räuber Hotzenplotz“ einen Publikumserfolg inszenierte und hier einen Quantensprung hinlegt als Filmemacher. Vermutlich wird er sich nicht vor Gericht verantworten müssen wie seinerzeit die Macher von „Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.“, aber eine öffentliche Diskussion insbesondere in der Schweiz wird „Landesverräter“ schon auslösen, weil Krummenachers Film einerseits als Tragödie eines armen Schweins, das in einem schmutzigen Spiel zermahlen wird, ganz großartig ist, aber eben auch politisch eine überaus klare Haltung vertritt, mit den erzählerischen und gestalterischen Mitteln eines Dramas dieselben Schlüsse zieht wie Dindo und Meienberg in den Siebzigerjahren.
Aber erst einmal ist da nur Ernst, gespielt von Dimitri Krebs in seiner ersten Filmrolle, vergleichbar überzeugend wie Felix Kammerer vor zwei Jahren in „Im Westen nichts Neues“ oder Lola-Gewinner Simon Morzé in „Der Fuchs“: eine Entdeckung, einer, von dem man nicht die Augen nehmen kann, mit seinem ungewöhnlichen langen, traurigen Gesicht, in dem sich Welten abspielen. Er hechtet buchstäblich in den Film. Begleitet von einem im Stil beschwingter französischer Popmusik der Sechzigerjahre komponierten Stück des begnadeten Score-Komponisten Björn Magnusson, der hier bereits das kommende, sich durch den Film ziehende musikalische Chormotiv anklingen lässt, und unterbrochen von farblich aufeinander abgestimmten Titelkarten (von Rot zu Gelb) radelt Ernst, ein abgerissener, hagerer, schlaksiger Kerl in einem dreckigen Anzug, einen Waldweg entlang, stürzt, steht wieder auf, klettert einen Baum mit Vogelkästen hoch, beißt ausgehungert in einen der Vögel, wird von einem Schäferhund verfolgt und springt dann kopfüber mit ausgebreiteten Armen von einer Brücke. Die Kamera friert ein und hält sein lachendes Gesicht fest. Viel zu Lachen hat er in den kommenden 110 Minuten nicht mehr.
Der Weg von Ernst Schrämli ist vorgezeichnet in der Welt der 1940er-Jahre. Aus einem wie ihm kann nichts werden. Er ist ein Herumtreiber, ein Taugenichts, vom immer besoffenen Vater verstoßen, in Heimen großgeworden, durch Erziehungsanstalten und Arbeitslager geschickt. Wie es um ihn steht, dass er nichts hat als die zerschundenen Klamotten, die er am Körper trägt, weiß er. Dass er mehr will, weiß er auch. Wie er es erzielen will, außer durch den ein oder anderen Gelegenheitsdiebstahl, weiß er nicht. Er hat keine Überzeugungen, keine Ansichten. Er schlägt sich auf die Seite der linken Gewerkschafter genauso schnell, wie er auf einer Versammlung von Nazi-Unterstützern in St. Gallen aufspringt und ein Lied zum Besten gibt. Weil Singen kann er, der Ernst Schrämli. Das bestätigt ihm auch ein Deutscher, der ihm noch mehr Honig ums Maul schmiert: Er könne Ernst eine Karriere im Reich garantieren, doch um an ein Visum zu kommen, müsse er ihm erst einmal helfen. Ein bisschen Geld bekommt Ernst schon einmal vorgestreckt, und allein der süße Geschmack von ein bisschen Lebemann ist genug, um ihn zu ködern.
Was folgt, ist eine Tragödie in mehreren Akten, die Ernst jeweils im Zusammenspiel mit einem Menschen zeigen, der eine wichtige Rolle spielt in seinem Leben: der Vater, die Liebschaft, der Vormund, der Deutsche, die Kameraden. Am Ende der Sequenzen singen sie alle dieselbe wortlose Melodie direkt in die Kamera, zunehmend dissonanter, immer blendet das Bild auf eine farbige Karte, von Gelb wieder zurück zu dunklem Rot, jeder von ihnen auf seine Weise Täter und Opfer, kleine Rädchen in einem großen Spiel, das keiner von ihnen steuert. Am Schluss, man ahnt es, wird es einen Chor geben, der das Totenlied anstimmt, den Abgesang auf ein vergeudetes Leben. Unerfüllte Träume hat man gesehen in diesem so bewegend klug komponierten Film, unerfüllte Begierden und Lieben, jeder gefangen in den eigenen Zwängen, die die schweizerische Gesellschaft vorgibt, während um das Land herum ein Weltkrieg tobt.
Neben Dimitri Krebs fallen besonders auf Fabian Hinrichs als deutscher Strippenzieher, dessen Einfluss geringer ist, als er es sich selbst eingestehen will, Luna Wedler als klassenkämpferische Tochter eines Großindustriellen, die sich mit Ernst einlässt, und Stefan Gubser als fürsorglicher Vormund, der ebenfalls nur ausgenutzt wird und gekauft werden kann. Am Schluss ist episches Theater. Ist Brecht. Ist Wut und Fassungslosigkeit über die Ungerechtigkeit. Und steht die Erkenntnis, dass Michael Krummenacher ein großer, bei aller Ernsthaftigkeit auch lässiger Film gelungen ist, der sich mehr als überzeugend reiht in die anderen jungen Filme mit einem neuen Blick auf den entmenschlichten Wahnsinn des Dritten Reichs, neben „In Liebe, Eure Hilde“, „Stella. Ein Leben“ oder „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“.
Thomas Schultze