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REVIEW KINO: „Ich Capitano“

Überwältigend bebilderte Odyssee zweier 16-jähriger Jungs aus dem Senegal, die davon träumen, in Europa Rapstars werden zu können.

CREDITS:
O-Titel: Io Capitano; Land/Jahr: Italien 2023; Laufzeit: 121 Minuten; Regie: Matteo Garrone; Drehbuch: Matteo Garrone, Massimo Ceccherini, Massimo Gaudioso; Besetzung: Seydou Starr, Moustapha Fall, Issaka Sawadogo; Verleih: X Verleih; Start: 4. April 2024

REVIEW:
Seitdem er mit „Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra“ vor 16 Jahren erstmals im Wettbewerb von Cannes vertreten war (im selben Jahr wie Paolo Sorrentino, damals mit „Il divo“) und den Großen Preis der Jury gewinnen konnte (ebenso wie im Anschluss vier Jahre später auch mit „Reality“), spielt Matteo Garrone in der ersten Liga des italienischen Filmschaffens mit: Nach seinem ungewöhnlichen (und ungewöhnlich gelungenen) „Pinocchio“ legt der 55-Jährige mit „Ich Capitano“ seinen wohl konventionellsten, aber auch kommerziellsten Film bislang vor, auch wenn das Thema und seine Umsetzung zumindest nicht auf den ersten Blick konventionell und erscheinen mögen. Mit hypnotischer Bilderwucht erzählt „Ich Capitano“ von der Odyssee zweier Cousins aus dem Senegal, die ihre zwar behütete, aber auch nicht unbedingt zukunftsträchtige Existenz in ihrem Heimatdorf hinter sich lassen wollen, um in Europa Rapstars werden zu können. Ein Quatschtraum, wie ihn Jugendliche nun einmal haben, wenn sie 16 sind und irgendwie glauben, dass die Welt ihnen gehört – man muss nur zugreifen. 

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Ein höllischer Marsch durch die Sahara ist nur eines der Hindernisse, das die zwei Helden von „Ich Capitano“ zu überwinden haben (Foto: X Verleih)

Was zwischen dem Traum und seiner Verwirklichung steht, zeichnet Matteo Garrone als filmischen Fiebertraum nach, mit einer Dramaturgie wie aus einer Hollywood-Produktion, aber ohne große Illusion, dass sich die Wünsche der Jungs jemals erfüllen werden. Die Geschichte, die er erzählt, ist nicht neu. Die Bilder, die er für sie findet, sind es sehr wohl, vereinen bedingungslosen Realismus mit einer magischen Überhöhung, wie man es vielleicht aus den Romanen eines Salman Rushdie kennt. Ja, man kann auch Seydou und Massou als Mitternachtskinder beschreiben. Sie sind die Helden der Geschichte, bald aber schon geprügelte Hunde, Ritter von der traurigen Gestalt, gebrochen und vernarbt schon, bevor sie überhaupt erst an Bord des Kutters steigen, der sie und hunderte Leidgenossen von Tripolis ins gelobte Land bringen sollen. 

Sie stellen sich ein großes Abenteuer vor, weil sie keine Vorstellung davon haben, was sie erwartet. Sie sind naiv und leutselig. Und schon kurz nach Beginn ihrer Reise, werden ihnen ihre Illusionen und ihre Unschuld geraubt. Ein Halsabschneider nach dem anderen erleichtert sie um das bisschen Geld, das sie angespart haben. Ein Versprechen nach dem anderen wird gebrochen. Sie werden geschunden, bedroht, bespuckt, getreten, misshandelt. Sie werden getrennt, erleben die Hölle auf Erden auf der Ladefläche eines Lasters. Sie sehen Tod und Leid auf ihrer biblischen Wanderschaft durch die Wüste Sahara, geraten in Gefangenschaft in Foltergefängnissen und werden mit dem Leben bedroht, ausgepresst wie Zitronen – Menschsein von ganz unten, Sinnbild für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Es sind Szenen, die kaum zu ertragen wären, wenn Matteo Garrone nicht ganz besondere Bilder finden würde. Er beschönigt nichts, und doch hat der magische Realismus eine überhöhte Schönheit, die einen als Zuschauer dranbleiben lässt. 

Und dann stechen sie in See, die beiden Jungen, die nichts mehr haben, außer der Hoffnung, ihre Tortur vielleicht doch zu überleben. Dabei geht der Wahnsinn erst jetzt richtig los: Seydou steht am Steuer des Schiffes. Immer geradeaus, hat man ihm gesagt, und hohe Wellen immer frontal nehmen. Ansonsten ist er allein auf sich gestellt. Und je schlimmer es wird auf der Überfahrt, desto lauter sagt er sich, seinem schwer verletzten Cousin und den Passagieren auf dem hoffnungslos überladenen Boot: Keiner wird hier sterben, ich werde alle retten. Das letzte Bild des Films ist dann eine Großaufnahme. Sie raubt einem den Atem. Weil klar wird, dass Matteo Garrone eines mit seinen jugendlichen Helden gemein hat: Er ist nicht bereit, den Glauben zu verlieren, den Mut sinken zu lassen, die Hoffnung aufzugeben. 

Thomas Schultze