Vom 17. bis 29. Oktober lädt Eva Sangiorgi zur 62. Viennale ein. Über Merkmale im diesjährigen Programm, eigene Handschriften, den starken Publikumszuspruch und eine Stadt, die voll hinter einem steht, spricht die Künstlerische Direktorin im Interview.
Was sind Besonderheiten des Filmjahrgangs 2024? Inwiefern spiegelt sich das in Ihrem Programm?
Eva Sangiorgi: Ich versuche immer, dass sich Themen treffen. Aber ich gehe nie mit bestimmten Kriterien ans Werk, die erfüllt werden müssen. Ich habe keine vorgefertigte Agenda. Alles hängt damit zusammen, was in unserem Leben, auf der Welt passiert, kulturell, politisch, sozial. Die Filme reflektieren das. Ich bringe die Filme in Verbindung, lasse sie miteinander sprechen. Es gibt dabei immer Filme, die einander bedingen. Als Künstlerische Direktorin bin ich eine Art Brückenbauerin, stelle Verbindungen her. Manche Filme sind dabei sehr explizit. Es geht dieses Jahr viel um Glück, um die Chance, zusammenzukommen, Beziehungen. Das interessiert die Menschheit seit Urzeiten. Auf der anderen Seite stelle ich die filmische Reflexion der schrecklichen politischen Situationen fest, an ganz verschiedenen Orten der Welt, auch des Zustands der Erde hinsichtlich des Klimawandels, Natur… Aber es gibt in diesem Filmjahrgang auch Filme, die sich nicht so leicht einordnen lassen.
Fällt Ihnen etwas besonders auf?
Eva Sangiorgi: In vielen spielen Tiere eine Rolle, immer in Beziehung zum Menschen gesetzt. Wie eine Metapher für die Ausbeutung von Ressourcen durch den Menschen, der Mensch als Schatten über den Tieren. Das ist durchaus auch Thema im Viennale-Programm geworden, wie man bei Romuald Karmakars „Der unsichtbare Zoo“ oder „Monólogo Colectivo“ der argentinisch-britischen Regisseurin Jessica Sarah Rinland sieht. Zudem stelle ich fest, dass sich viele Filme mit Kunst als Institution beschäftigen und sich mit ihrem eigenen politischen Engagement einmischen, dabei mit den Formen des Spiel- und Dokumentarfilms spielen. Wie „Direct Action“ von Guillaume Cailleau und Ben Russell, der bei der Berlinale lief, oder „Fario“, das Debüt von Lucie Prost. Außerdem zeigen wir „Exergue – On Documenta 14“ mit großem Rahmenprogramm mit Menschen aus dem Kunstbereich.
Es ist Ihre siebte Viennale. Ist das Festival nun genauso, wie Sie es sich vorgestellt haben? Was macht Ihre Viennale unique, anders als andere Festivals?
Eva Sangiorgi: Nein. Ein Festival ist niemals so, wie man es sich vorgestellt hat. Aber ich bin definitiv hier angekommen, das kann ich sagen. Es gibt immer Dinge, die wir noch anpacken wollen. Ein Festival sollte immer in Bewegung bleiben, nicht stillstehen. Natürlich spiegelt sich meine Handschrift im Programm und auch die diesjährige Ausgabe ist konsistent. Aber ich hoffe, dass wir uns in Zukunft doch auch noch weiterentwickeln können. Es ist nicht so, dass ich mich in meinen ersten Jahren nicht auch schon wiedergefunden hätte im Programm. Was ich jetzt feststelle, ist, dass das Netzwerk, die Verbindungen, nach sieben Jahren so sind, wie ich sie mir damals vorgestellt hatte.
Wie gelingt es Ihnen, in der Flut von Festivals im Herbst einerseits Ihre Identität zu wahren, andererseits einen Impact zu machen?
Eva Sangiorgi: Das habe ich einzig und allein dem Festivalpublikum zu verdanken. Die Viennale ist ein Publikumsfestival, und dieses ist über die Jahre sehr treu geblieben. Unsere Relevanz ist direkt mit Wien verbunden, mit der Stadt und ihren Einwohnern. Auf der anderen Seite ist die Viennale ein internationales Festival, das von einem großen internationalen Netzwerk lebt. Dank seiner DNA, seines Kerns, wird es nach wie vor von vielen Autorenfilmern sehr geschätzt. Aber klar, es wird auch schwieriger, sich zwischen all den großen Herbstfestivals zu behaupten, die immer noch größer werden. Das streite ich nicht ab. Es ist kompliziert geworden, die Zeitpläne zu erstellen für die Filmemacher und Schauspieler, die man einladen möchte. Die Viennale ist ein Nachspielfestival, da muss man schon um seine Gäste kämpfen. Außerdem ist Österreich ein kleines Land, das Potenzial einer Kinoauswertung entsprechend daran gekoppelt. Ich will mich gar nicht beklagen, es kommen genug Gäste, Gäste, die in der Vergangenheit schon da waren, aber auch neue. Die Kapazitätsgrenze des Möglichen haben wir bereits erreicht.
„Mit der Stadt Wien haben wir eine fantastische Beziehung.“
Filmfestivals werden immer mehr Solitäre, eine eigene Form der Filmverwertung. Was muss man anstellen, um die Begeisterung und den Enthusiasmus, der auf Festivals entsteht, wieder stärker für die reguläre Kinoauswertung nutzen zu können? Befinden sie sich im Austausch mit österreichischen Verleihern?
Eva Sangiorgi: Die Beziehung zu den Verleihern ist sehr gut, insbesondere auch von ihrer Seite. Wir haben uns dabei gar nicht so sehr verändert, ziehen unsere Strategie durch. Seit ich die Viennale leite und insbesondere seit der Pandemie stelle ich fest, dass vermehrt auch kleinere Filme einen Verleih finden, weil die Verleiher darauf vertrauen, dass wir die Filme auf der Viennale zeigen. Das hat die wirtschaftliche Situation komplett verändert, weil es zu bevorzugen ist, mit den Verleihern direkt zu reden, anstatt die Filme mit den Sales Agents zu verhandeln. Es ist ein bisschen kompliziert, speziell wenn keine Kopien mit deutschen Untertiteln vorliegen…Wenn die Filme einen österreichischen Verleih haben, kommen sie zumindest mit deutschen Untertiteln. Das ist eine Win-Win-Situation. Auch wenn wir dafür eine höhere Gebühr zahlen müssen als eine normale Screening-Fee. Wir zahlen Screening-Fees, zahlen die Aufenthalte der Filmteams. Die Benefits sind für uns zwar bezüglich des Geldes etwas geringer, aber immerhin bekommen wir deutsche Untertitel, was ein wichtiger Service für unser Festivalpublikum ist. Aktuell habe ich Diskussionen laufen, weil für bestimmte Filme, die wir zeigen wollen, die deutschen Untertitel nicht rechtzeitig zum Festival fertig werden… Das ist unangenehm.
In Deutschland sind die Klagen der Festivals groß, es mangele an politischer und finanzieller Unterstützung. Wie sieht es bei der Viennale aus? Stehen Sie gut da, ist die Zukunft gesichert?
Eva Sangiorgi: Absolut. Ich kann mich nicht beklagen! Die Unterstützung, die wir durch die Stadt Wien bekommen, ist einmalig. Mit der Stadt Wien haben wir eine fantastische Beziehung. Mehr Unterstützung würde ich mir vom Bundesministerium wünschen. Wir führen immer auch Gespräche mit den jeweiligen Regierungen. Aber für das Bundeskabinett haben wir keine so große Relevanz. Das ist schade. Denn gerade der Bereich der Sponsoren wird immer härter – für alle Festivals. Wir haben sehr langjährige, treue Sponsoren, aber auch wir bekommen zu spüren, dass sich die privaten Kulturförderer mittlerweile lieber in anderen Bereichen engagieren, wie großen Klima-Initiativen zum Beispiel. Gleichzeitig wissen wir alle, dass Kulturbudgets nicht an die allgemeinen Teuerungsraten angepasst werden…
Auch in Österreich ist politisch ein spürbarer Rechtsruck zu erwarten. Wird sich das auf die Viennale auswirken? Wie positionieren Sie sich?
Eva Sangiorgi: Ich darf in Österreich gar nicht wählen, da ich Italienerin bin. Aber ich tue mich mit Kolleg:innen anderer Kulturinstitutionen zusammen. Auf Instagram haben wir eine kleine Kampagne gestartet, die die Österreicher dazu auffordert, zur Nationalratswahl Ende September zu gehen. Es ist wichtig, wählen zu gehen. Sonst passiert dasselbe wie in Italien, wo einfach viele Menschen nicht gegangen sind, weil sie eh alle Hoffnung auf Veränderung verloren haben. Wir alle tragen Verantwortung für unsere Zukunft. Mir ist es ein Anliegen, mich mit anderen zusammenzuschließen, und natürlich spiegelt auch die Viennale dieses Bewusstsein. Die Freiheit der Kultur gilt es zu beschützen. Auch wenn wir in Wien in einer sehr privilegierten Stadt leben, die eine lange Tradition mit sozialdemokratisch geprägten Stadtregierungen hat. Das kann sich aber durchaus ändern.
Das Gespräch führte Barbara Schuster
Spotlight:
62. Viennale
Das cinephile Programm von Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi umfasst dieses Jahr wieder ausgezeichnete Festival-Highlights der vorangegangenen A-Festivals („Anora“, „The Room Next Door“, „Die Saat des heiligen Feigenbaums“, „Dahomey“, „Emilia Pérez“), österreichische Werke wie „Mond“, „Pfau – Bin ich echt?“, „The Village Next to Paradise“ oder „Bluish“ sowie kleinere, avantgardistische Perlen und ein Kino, das „die internationalen Krisen“ behandelt („A Fidai Dilm“ von Kamal Aljafari, „No Other Land“ von einem Regiekollektiv oder „The Diary of a Sky“ von Lawrence Abu Hamdan). In den filmhistorischen Reihen stehen dieses Jahr unter anderem die brasilianische Filmemacherin Juliana Rojas oder die Wiener Theaterschauspielerin Helene Thimig im Hollywood-Exil im Mittelpunkt. Weitere Retrospektiven beschäftigen sich mit den experimentellen Arbeiten des mexikanischen Kollektivs Los Ingrávidos sowie mit der japanischen Kolonialgeschichte im koreanischen Kino. Hier geht’s zum Programm der diesjährigen Ausgabe.