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Alexandre Aja über „Never Let Go”: „Bleibende Erinnerungen schaffen“

Seit mehr als 20 Jahren ist der Franzose Alexandre Aja einer der führenden Horror-Regisseure. Mit „Never Let Go – Lass niemals los“ mit Halle Berry bleibt er sich treu, geht aber gleichzeitig neue Wege. Wir haben uns mit ihm über das düstere Märchen unterhalten, das Leonine Studios am Donnerstag in die deutschen Kinos bringt.

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Am Set: „Never Let Go – Lass niemals los“ von Alexandre Aja (Credit: Leonine Studios)

Einen Film wie „Never Let Go“ haben Sie noch nie gemacht. Als Experte für Horrorfilme: Empfinden Sie diese Arbeit als Horrorfilm?

Alexandre Aja: Ich denke, dass es kein Horrorfilm per se ist. Aber weil der Film viele meiner persönlichen Ängste auf eine tiefe Weise anspricht, entwickelt „Never Let Go“ auf jeden Fall eine Intensität und Spannung, wie man es sich von einem guten Horrorfilm erwartet, etwas, das einen beunruhigt, bei einem bleibt, einen mit sich selbst in Gericht gehen lässt. Aber klar, mit früheren Arbeiten von mir wie „Haute Tension“ oder „The Hills Have Eyes“ hat das nichts zu tun. Vielleicht kann man ihn aber Seite an Seite mit anspruchsvolleren Horrorfilmen sehen, die ihrerseits das Genre transzendiert haben, Filme wie „Pans Labyrinth“ oder „The Others“. Wenn sie nach einer Bezeichnung suchen, trifft es übernatürlicher oder psychologischer Thriller ganz gut, finde ich. 

Wie wäre es mit: düsteres Märchen? Spielt im Wald, hat eine Hütte…

Alexandre Aja: Das trifft es auch deshalb sehr gut, weil der Horrorfilm in unserer Zeit eine ähnliche Funktion hat wie das Märchen in früheren Jahrhunderten. Es sind Geschichten, in denen die Figuren etwas erleben oder durchlaufen, das einem den Spiegel vorhält, die es einem ermöglichen, die eigenen Ängste zu konfrontieren und auszuloten, ohne dass man sich in Gefahr begeben muss. Genauso ist es auch mit dem obsessiven Interesse an Serienmördern. Das gab es damals auch schon in Deutschland und Frankreich, die Menschen verschlangen diese Geschichten über beispielsweise Gilles De Rais, den Kinderfresser… Es ist morbide, gewiss, aber man verarbeitet damit auch die düsteren Dinge, die in einem selbst stecken, Dinge, mit denen man sich nicht gerne so befasst, die Angst vor dem Sterben, die Angst vor Schmerz, das Unbekannte…

Oder, wie in „Never Let Go“, dass die Mutter, die einen beschützen soll, einem womöglich Schaden zufügen könnte…

Alexandre Aja: Das fand ich spannend. Da ist eine Frau, die nur das Beste für ihre Kinder im Sinn hat, aber damit nicht unbedingt das Beste für ihre Kinder macht. Für ein Kind ist die Mutter die wichtigste Person, eine Lichtgestalt, der Inbegriff des Guten und Beschützenden. Sie liebt einen mehr als alles andere in der Welt. Aber was ist, wenn diese Liebe einen erdrückt, wenn diese Liebe das Urteilsvermögen trübt? Lustig, dass Sie Märchen angesprochen haben, denn das ist auch ein Thema, das sich immer wieder entdecken lässt in Märchen, die böse Stiefmutter, deren Liebe vergiftet ist. 

Man darf nicht zu viel verraten, aber etwa nach der Hälfte der Laufzeit gibt es ein Ereignis in Ihrem Film, das alles noch einmal auf Null stellt – es ist ein bemerkenswerter Moment.

Alexandre Aja: Man kann offen darüber sprechen, dass es ein paar Wendungen in der Handlung gibt, die man hoffentlich nicht kommen sieht. Zumindest ging es mir als Leser des Drehbuchs so: Da musste ich kurz schlucken. Und habe es dann gleich noch einmal gelesen, um mich zu versichern, dass es da wirklich so steht. Es ist ein extremer Moment, aber auch ein wichtiger Moment in der Heldenreise unserer Hauptfiguren. 

„Ich suche jedes Mal eine neue Herausforderung, will mit jeder neuen Arbeit andere Aspekte innerhalb der Parameter des von mir präferierten Genres ausleuchten.“

Alexandre Aja

Sie haben selbst schon angedeutet, dass „Never Let Go“ ein Film ist, wie sie ihn noch nie gemacht haben – der aber doch immer klar erkennbar ein Alexandre-Aja-Film ist. Was macht den Film für Sie besonders?

Alexandre Aja: Zunächst einmal versuche ich, mich nicht zu wiederholen. Ich suche jedes Mal eine neue Herausforderung, will mit jeder neuen Arbeit andere Aspekte innerhalb der Parameter des von mir präferierten Genres ausleuchten. Besonders ist „Never Let Go“ für mich, weil ich das erste Mal die Gelegenheit hatte, ein Märchen zu erzählen, auf meine Weise zu erzählen, als düstere, mythische Saga. Elemente davon finden sich schon in „Horns“ und „Das 9. Leben des Louis Drax“. Seither habe ich immer nach einem Stoff gesucht, mit dem ich das durchdeklinieren könnte. Jetzt ist es mir endlich gelungen. 

Sie sind fast immer auch der Produzent Ihrer Film…

Alexandre Aja: Eigentlich geht das zurück zu meinen allerersten Arbeiten, „Furia“ und „Haute Tension“. Wenn man anfängt in Frankreich mit kleinen Filmen ist man automatisch Regisseur und Produzent in Personalunion. Und bei „The Hills Have Eyes“ habe ich den Credit nicht bekommen, weil es meine erste Arbeit in den USA war. Ich will in alle Entscheidungen involviert sein und muss die Möglichkeit haben, notfalls auch mein Veto einzulegen. Ich kann mir die Arbeit anders nicht vorstellen. Wenn man kreativ die Kontrolle haben will, muss man so arbeiten. 

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Am Set: „Never Let Go – Lass niemals los“ von Alexandre Aja (Credit: Leonine Studios)

„Never Let Go“ war aber kein Stoff, der von Ihnen ausging.

Alexandre Aja: Er wurde ursprünglich mit einem anderen Regisseur entwickelt. Ich bin dann erst als Regisseur und Produzent an Bord gekommen. Wie bei allen anderen Projekten arbeite ich mit anderen Produzenten. Ich bin nicht derjenige, der die Finanzierung auf die Beine stellt. In der Regel entwickle ich die Stoffe auch nicht. Meine Arbeit als Produzent würde ich eher als kreativen Selbstschutz bezeichnen. Ich schätze Zusammenarbeit sehr, ich bin ein Teamplayer. Aber das muss auf Augenhöhe stattfinden. Wenn ich auch Produzent bin, ist das gewährleistet. Am liebsten bezeichne ich mich als Filmemacher. Und das umfasst für mich, Regisseur und Produzent zu sein. 

War es Ihnen wichtig, nach „Oxygene“, den Sie für Netflix gemacht haben, wieder fürs Kino zu arbeiten?

Alaxandre Aja: Bei „Oxygene“ war ich schon sehr früh involviert. Wir haben das Projekt als Kinofilm vorbereitet, es sollte auf Englisch gedreht werden, es gab sogar bereits einen Cast. Dann kam die Pandemie. Corona hat das Projekt, wie wir es vorbereitet hatten, gekillt. Netflix hat den Stoff gerettet. Der französische Produktionsarm sprach mich an und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, den Film in Frankreich zu drehen, in französischer Sprache. Ich konnte nicht ablehnen, zumal ich den Eindruck hatte, dass die Geschichte durch die Pandemie zusätzlich an Bedeutung gewonnen hatte. Und auch ästhetisch war es eine gute Idee, für Netflix zu arbeiten: Die Box, in der sich die Hauptfigur befindet, hat dieselbe Form wie ein Fernseher. Es war eine gute Erfahrung. Aber natürlich lebe ich für die große Leinwand. Ein Horrorfilm entfaltet eine ganz andere Wirkung, wenn man ihn in einem dunklen Raum mit anderen Menschen sieht. Man spürt förmlich, wie sich die Luftdichte verändert. Man hat eine intensivere, erfüllendere Erfahrung, wenn man einen Film auf einer großen Leinwand sieht, er gräbt sich tiefer ein in die Erinnerung. Und das ist doch das Beste, was man als Filmemacher machen kann: eine bleibende Erinnerung schaffen.

Das Gespräch führte Thomas Schultze.