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Christian Bräuer: „Verspüren einiges an Rückenwind“

Filmpolitisch kann man sich kaum ein spannenderes Jahr vorstellen als 2024 – entsprechend stark beschäftigt die Förderreform auch die AG Kino-Gilde. Eine Reform, die einen durchaus vielversprechenden Weg nimmt, wie der Verbandsvorsitzende im Gespräch mit SPOT schildert.

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Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzender der AG Kino-Gilde (Credit: Andi Weiland)

Eine Filmkunstmesse wie jede andere? Gibt es trotz vieler lieb gewonnener Traditionen im Grunde ohnehin nicht – dafür sorgt schon das stets abwechslungsreiche und anregende Filmprogramm, das immer auch für Überraschungen gut ist. Derartige stehen bei der anstehenden Vorstandswahl der AG Kino-Gilde wohl eher nicht zu erwarten – anders sieht das aber vielleicht bei der Förderreform aus, von der die 24. Filmkunstmesse in besonderem Maße geprägt sein wird. Wo man an dieser Stelle steht, worauf man noch hoffen kann und vor allem: was das Kino und die Filmkunst benötigen. Darüber sprachen wir im Vorfeld des Leipziger Arthouse-Treffens mit Christian Bräuer.

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs läuft die parlamentarische Sommerpause noch zwei Wochen. War auch für Sie Zeit, ein wenig an der filmpolitischen Front zu entspannen?

Christian Bräuer: Es wird in der Sommerpause zwar stets etwas ruhiger, aber wir befinden uns in einem entscheidenden Stadium der Förderreform. Das FFG geht ins abschließende parlamentarische Verfahren und die wesentlichen Säulen Strukturreform harren noch ihrer Vollendung. Gerade in den letzten Wochen war Gelegenheit, zahlreiche Hintergrundgespräche zu führen, ich selbst habe mich unlängst unter anderem mit den Medienministern aus Bayern und NRW, Florian Herrmann und Nathanael Liminski, getroffen. Das waren wichtige und überaus konstruktive Termine, aus denen ich Rückenwind für unsere Anliegen mitgenommen habe. Daneben gab es auch in den letzten Wochen sehr produktive Arbeitstreffen zur Ausgestaltung der künftigen Kinoförderungen. Gerade in der Schlussphase geht es um Detailarbeit, damit die neuen Förderinstrumente ihre Wirkung auch entfalten – in unserem Fall, damit die Anreize für Programmvielfalt durch Risikoabfederung gestärkt werden und Kinos die so wichtige Planungssicherheit und Unterstützung für Investitionen haben.

Bei der Vorstellung erster konkreter Reformentwürfe im Februar haben Sie noch eine zu starke Fokussierung auf die Filmfinanzierung beklagt. Hat sich daran im weiteren Verfahren etwas geändert?

Christian Bräuer: Es scheint Novellierungsprozessen in Deutschland immanent zu sein, dass viel über das Kino gesprochen wird und sie sich dann zunächst sehr einseitig auf die Filmfinanzierung fokussieren. Nicht dass es falsch wäre, sich um die Filmfinanzierung zu kümmern. Ganz im Gegenteil. Nur ist auch klar, dass die Strukturreform nur dann ihre Ziele erreichen kann, wenn sie ganzheitlich gedacht ist und auch die Sichtbarmachung von Filmen einschließlich der Publikumsentwicklung adressiert. Das Risiko eines – kulturell wie filmwirtschaftlich dramatischen – Verlusts zahlreicher Kinos ist hier eng verwoben mit den noch längst nicht ausgeschöpften Potenzialen. Natürlich mussten wir da entschieden nachhaken. Dankenswerterweise gab es auf unsere Hinweise sehr starke Resonanz – und das nicht nur aus Reihen des Parlaments, sondern auch der Länder. Auch seitens der BKM wurde ausgesprochen schnell reagiert, bereits während Berlinale kam das Signal, dass man noch nachbessern würde. Mittlerweile sind wir ein gutes Stück weiter, was die Ausgestaltung der kulturellen Kinoförderung anbelangt – und auch wenn es noch ein einige offene Punkte gibt, bin ich zuversichtlich, dass man das am Ende zu einer runden Sache machen kann. Elementar – und leider noch offen – ist die Fortsetzung des Zukunftsprogramms Kino, aber seitens der BKM wurde ja auch schon öffentlich in Aussicht gestellt, dass man die richtigen Weichen an dieser Stelle noch im Zuge des parlamentarischen Verfahrens stellen will. Natürlich kann man gerade in dieser angespannten Haushaltssituation erst aufatmen, wenn die Bereinigungssitzung abgeschlossen ist, wenn etwas Schwarz auf Weiß im Haushalt steht. Aber wenn das gelingt – und ich hege diese Hoffnung – dann wäre das Kino am Ende doch noch sehr gut in die Gesamtreform integriert.

„Am Ende geht es darum, ein möglichst gerechtes und transparentes Modell zu schaffen, dass die Film- und Programmvielfalt stärkt.“

Können Sie etwas zur Summe von 40 Mio. Euro sagen, die zum ZPK mitunter kolportiert wird?

Christian Bräuer: Aus dem politischen Raum habe ich diese Summe noch nicht gehört. Klar ist, dass der Investitionsdruck weiterhin hoch ist und die in diesem Jahr bereitgestellten Mittel zu knapp bemessen waren – nicht umsonst war das Programm sage und schreibe 20 Sekunden nach Antragsstart überzeichnet. Demzufolge wäre es mehr als bedeutend, dass es mehr als die zehn Mio. Euro aus 2024 werden.

Steht eine perspektivische Ablösung des BKM-Kinoprogrammpreises durch ein an das französische Referenzsystem angelehnte Lösung, wie sie im vergangenen Jahr seitens der BKM angedeutet wurde, noch zur Debatte?

Christian Bräuer: Die französische Programmkinoklassifizierung ist Teil des Erfolgsmodells unserer Nachbarn, stärkt Filmvielfalt und Kinokultur. Angestrebt wird nun eine Synthese aus dem deutschen Entwicklungspfad und dem französischen System, die sich an Besucher- und Filmquoten orientiert und auch darüber hinaus dem kulturellen Engagement der Kinos Rechnung trägt. Den Kinoprogrammpreis wird es erst einmal weiterhin geben, auch als Zugangskriterium zur kulturellen Kinoförderung. Entscheidend ist für uns, dass die Kinoförderung risikoreiche Programme sowie aufwendige Programm-, Marketing- und Publikumsaktivitäten verlässlich und stärker unterstützt und deren Verbreitung damit stärkt. Das gilt besonders für Werke der kulturellen Filmförderung und Festivalfilme. Auch Filme aus am Markt unterrepräsentierten Ländern sollten einbezogen werden.  Es geht darum, wie man im Rahmen der Referenzförderung kulturelle Booster setzt und perspektivisch quantitative mit qualitativen Kriterien verzahnt. Am Ende geht es darum, ein möglichst gerechtes und transparentes Modell zu schaffen, dass die Film- und Programmvielfalt stärkt. Das muss das Ziel sein – und so sieht das meiner Einschätzung nach auch die Politik.

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Großer Moment: Im Februar durfte Christian Bräuer aus den Händen von Berlins Senatskanzleichef Florian Graf das Bundesverdienstkreuz entgegennehmen (Credit: Jan Windszus)

Nicht zuletzt aufgrund des zeitlichen Ablaufs beim Reformprozess und der verbesserungswürdigen Kommunikation sah sich Kulturstaatsministerin Claudia Roth viel Kritik ausgesetzt. Aber trügt der Eindruck, dass sie bemüht ist, aus einer mehr als angespannten Haushaltslage etwas für die Branche und nicht zuletzt die Kinos herauszuholen?

Christian Bräuer: Absolut. Der Haushaltsentwurf unterstrich sehr klar, dass die Förderreform zu den großen Prioritäten in ihrem Haus zählt. Da wurden wichtige Pflöcke eingeschlagen und die budgetäre Grundlage für einen innovativen Förderansatz gelegt. Claudia Roth hat sich bereits mit der geplanten Rücknahme der Kürzung beim Kinoprogrammpreis klar positioniert. Das schätzen wir sehr, auch wenn aus Kinosicht – bei aller Hoffnung auf eine Regelung im parlamentarischen Verfahren –wünschenswert gewesen wäre, wenn das ZPK bereits hinreichend im Haushaltsentwurf hätte verankert werden können. Zumal es bei der Kinoinvestitionsförderung nicht nur um das nächste Jahr geht. Aus unserer Sicht muss das ZPK für die kommenden fünf Jahre fortgeschrieben werden. Am Ende gilt für alle, von den Kreativen über Produktion und Verleih bis zu den Kinos: Wir benötigen Verlässlichkeit und Planbarkeit. Das ist das A und O.

Die Stärkung der kulturellen Filmförderung im Haushaltsansatz geschah nicht, ohne dass Etats verschoben wurden. Wie stehen Sie dazu, dass der Deutsche Filmpreis künftig undotiert vergeben werden soll?

Christian Bräuer: Ich denke, dass dieser Schritt nicht ganz überraschend kam – vor dem Hintergrund alljährlicher Debatten ist er auch konsequent. Entscheidend ist, dass das Geld dem anspruchsvollen Film nicht verloren geht, sondern in die selektive Filmförderung des Bundes fließt. Diese zu stärken ist als flankierende Säule zu den Automatismen unverzichtbar, auf die künftig – einerseits mit dem Steueranreizmodell, andererseits mit der FFA-Referenzfilmförderung – gesetzt werden soll. Denn nur so kann das ganze Potenzial der kreativen Vielfalt ausgeschöpft und der Nachwuchs gestärkt werden.

„Unsere Aufgabe sehe ich darin, immer auch eine gewisse Spürnase zu haben und Filmen wie kreativen Talenten mit ganzer Kraft zur Seite zu stehen.“

Was bleibt auf Verbandsebene auf der Zielgeraden dieser Reform anderes, als x-fach angebrachte Argumente zu wiederholen?

Christian Bräuer: Wir haben starke Argumente. In einer komplexen politischen Landschaft können wir nur durch kontinuierliche Gespräche auf allen Ebenen alles daran setzen, dass sie Gehör finden. Aktuell liegt der Fokus – und das ist im Grunde nachvollziehbar – sehr stark auf der Frage, Steueranreize und Investitionsverpflichtung unter Dach und Fach zu bekommen. Umso wichtiger ist aber, gerade in dieser Phase nicht aus dem Blick rutschen zu lassen, dass die Reform nur dann zum großen Wurf wird, wenn Kino und Verleih stets mit im Fokus stehen. Dem Grunde nach bin ich optimistisch. Die Bedeutung audiovisueller Medien für unsere Gesellschaft und Demokratie ist unbestritten. Ebenso offensichtlich ist, dass Deutschland eine umfassende Reform benötigt, um in einem zunehmend globalisierten Umfeld wettbewerbsfähig zu bleiben und eine eigene Stimme zu bewahren. Es geht um nichts Geringeres als die Soft-power filmischen Erzählens.

Anders als manche andere – geplante – Maßnahme befindet sich der FFG-Entwurf im weit fortgeschrittenen Gesetzgebungsverfahren, lässt aber noch Punkte erkennen, die den Kinos offenkundig Bauchschmerzen bereiten. Wo drückt der Schuh mehr? Bei der Filmabgabe – oder der Fensterregelung?

Christian Bräuer: Ganz eindeutig bei der Fensterregelung. Das ist eine zentrale Frage. Nur wenn wir Kino als Entität betrachten, hat es eine Zukunft. Für uns Kinos ist sie mindestens so relevant wie der Rechterückbehalt in der Produktion. Mit der Branchenvereinbarung haben wir Kinoverbände uns sehr weit bewegt – auch im Vertrauen darauf, dass eine solche Regelung dann die Grundlage des neuen Gesetzes ist. Deswegen ist es höchst bedauerlich, dass das die vereinbarten Regeln aufgeweicht und die wichtigen Einwände der Kinos gegenüber der aktuellen Fassung noch nicht berücksichtigt wurden. Hier bedarf es dringend einer Korrektur. Was die Filmabgabe betrifft, ist eine kinobezogene Abgabe gerechter als das bisherige leinwandbezogene System, in dem kleine Kinos in etlichen Fällen bei einem höheren Abgabesatz landeten als größere Häuser mit deutlich höherem Gesamtumsatz. Dass man dies korrigiert, finde ich richtig. Es ist nur wichtig, jetzt in die Feinsteuerung zu gehen, damit in der Mitte keine unverhältnismäßigen Härten entstehen.

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Gute Spürnase: Schon 2023 wurde Sandra Hüller mit dem Ehrenpreis der Gilde-Filmpreise ausgezeichnet – bevor unter anderem „The Zone of Interest“ seinen Siegeszug antrat (Credit: Leonine)

Einer der Höhepunkte der Filmkunstmesse ist die Verleihung der Gilde-Filmpreise. 2023 ging der Ehrenpreis an Sandra Hüller. Zwölf Monate und die Starts von „Anatomie eines Falls“, „The Zone of Interest“ und „Zwei zu Eins“ später: War man ein Jahr zu früh dran?

Christian Bräuer: Im Gegenteil, das war genau der richtige Zeitpunkt. Es zeugt von einer gewissen Weitsicht. Unsere Aufgabe sehe ich darin, immer auch eine gewisse Spürnase zu haben und Filmen wie kreativen Talenten mit ganzer Kraft zur Seite zu stehen. Es waren außergewöhnliche Leistungen, die wir ausgezeichnet haben – und mit „Toni Erdmann“ steht Sandra Hüller auch für den größten deutschen Erfolg des letzten Jahrzehnts. Dass „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“ so gut liefen, war bei allem Buzz aus Cannes harte Arbeit, national wie international, auf Ebene der Verleiher ebenso wie bei den Kinos vor Ort

Umso schöner, dass das Publikum ebenso urteilte – aber Hand aufs Herz: Wie weit lagen Sie mit Ihrer persönlichen Prognose von den tatsächlichen Zahlen von „The Zone of Interest“ entfernt?

Christian Bräuer: Bundesweite Marktprognosen sind nicht meine Aufgabe, im Arthouse-Kino geht es zuvorderst darum, das jeweilige lokale Umfeld im Blick zu behalten. Tatsächlich zähle ich bei diesem Film zu den wenigen Besuchern der Cannes-Premiere, die danach nicht nur zutiefst ergriffen waren, sondern die überzeugt waren, dass er auch gut laufen würde. Klar ist allerdings auch: Ohne den vorangegangenen Erfolg von „Anatomie eines Falls“ hätte „The Zone of Interest“ nicht in diesem Maße funktioniert. Die Abfolge der Filme war gut – und mit Blick auf den deutschen Markt darf man hervorheben, mit welchem Gefühl und Engagement Plaion Pictures und dort vor allem Katharina Günther „Anatomie eines Falls“ und seine Hauptdarstellerin aufgebaut haben. Umso schöner, dass sich der Erfolg von Sandra Hüller mit „Zwei zu Eins“ nun weiter fortsetzt.

„Kino hebt sich als Kunstform zunehmend mit Inhalten ab, die anderswo nicht verfangen.“

Auffällig ist natürlich, das von den drei genannten Filmen nur einer aus Deutschland kommt. Detlev Buck sagte unlängst im Gespräch mit SPOT, dass ein Film wie „The Zone of Interest“ in Deutschland aus seiner Sicht nie und nimmer eine Chance auf Förderung gehabt hätte. Pflichten Sie ihm da bei – und ändert sich das perspektivisch?

Christian Bräuer: Es muss uns zu denken geben, wenn wir uns für Filme mit – oder wie bei „Perfect Days“ von – deutschen Kreativen international feiern und zeitgleich „John Wick“ den deutschen Marktanteil retten muss. Natürlich ist es für den Erfolg deutscher Kreativer erst einmal ganz gleich, wo der Film finanziert wurde. Doch es muss unser Anspruch sein, auch mit den hier finanzierten Filmen international wettbewerbsfähig zu sein – gerade auch bei den großen internationalen Festivals, bei denen wir in den letzten Jahren auf spannendste Weise die Weiterentwicklung unserer Kunstform beobachten konnten. Detlev Buck legt den Finger in die Wunde. Es zeigt, wie wichtig die ganzheitliche Strukturreform mit der kulturellen Filmförderung als vierter Säule, eine eng damit verzahnten Verleih- und Kinoförderung sowie eine gestärkte Berlinale sind.

Etliche Filmkunst-Hits der vergangenen Monate – siehe auch „Poor Things“ – fielen nicht gerade in den Bereich dessen, was man als „Wohlfühl-Arthouse“ tituliert. Es waren auffällig viele Titel, die keine einfachen Antworten geben, die das Publikum fordern. Sehen Sie einen Trend hin zu Themen, die zur Diskussion anregen?

Christian Bräuer: Wir beobachten diesen Trend schon seit Längerem. Während es in sozialen Medien und auch am kleinen Schirm eine klare Abtrennung zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch gibt, funktionieren gerade im Arthouse-Kino die Widersprüche, funktionieren Charaktere und Geschichten, die es dem Publikum nicht einfach machen, die Fragen aufwerfen – zuletzt auch immer häufiger jene, wie eine Gesellschaft mit Außenseitern umgeht. „Systemsprenger“ oder „Das Lehrerzimmer“ sind Paradebeispiele aus deutscher Sicht. Kino hebt sich als Kunstform zunehmend mit Inhalten ab, die anderswo nicht verfangen. Dass es gelungen ist, gerade in jüngerer Vergangenheit den echten Arthousefilm bzw. Festivalfilme gerade auch beim jungen Publikum zu verankern, sehe ich – eindeutig auch eingebettet im Letterboxd-Effekt, also der zunehmenden Vernetzung von internationalen Filmfans – als Erfolg der engagierten Arbeit vieler Kinos und Verleiher, als Resultat enormer Anstrengungen.

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Christian Bräuer mit Mohammad Rasoulof anlässlich der Auszeichnung von „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ durch den französischen Arthouse-Verband AFCAE in Cannes – jetzt geht der Film für Deutschland ins Oscar-Rennen (Credit: AG Kino-Gilde)

Generell stand vor allem das erste Halbjahr im Zeichen zahlreicher Arthouse-Erfolge. Entspannt sich die Situation im Filmkunstbereich nach der Pandemie generell – oder hatten wir es mit einer außergewöhnlichen Startsituation zu tun? 

Christian Bräuer: Ganz klar war der Jahresbeginn, genauer gesagt der Zeitraum ab November vergangenen Jahres bis hinein in den April mit dem italienischen Überraschungserfolg „Morgen ist auch noch ein Tag“, ein echter Glücksfall mit einer hohen Dichte guter Filme. Das hat beflügelt. Aber natürlich sehen wir jetzt im Sommer umgehend wieder, wie stark wir von der Filmbelieferung abhängig sind. „Zwei zu Eins“ ist die sehr erfreuliche Ausnahme, generell erleben wir gerade wieder einen stark Mainstream-getriebenen Markt. Es gab 2024 etliche Wochen, in denen der Arthouse-Anteil am Gesamtmarkt außergewöhnlich hoch war, zuletzt fiel er dann unter den Schnitt. Aber das ist im Grunde Ausdruck gewohnter Saisonalität. Die Herausforderungen bleiben hoch, das Geschäft sehr volatil, nur sehen wir, dass das Arthouse zurückkommt, dass die Festivalfilme punkten. Nicht etwa nur beim älteren Publikum, sondern gerade auch bei der jüngeren Generation – was vielleicht die beste Nachricht überhaupt ist. Darauf können wir aufbauen. Wir müssen den Markt entwickeln, Vielfalt und Diversität der Themen stärken – und das im Schulterschluss mit den Festivals, die wieder als Marken funktionieren. Ein tolles Beispiel ist die Neon-Kampagne zu „Anora“– zu Beginn des Trailers prangt fast fünf Sekunden lang das Cannes-Logo. Diese Markenbildung müssen wir voranbringen – auch auf Ebene der Filmtheater. Denn auch ein Kino muss eine Marke sein, die Vertrauen schafft.

Das Gefälle zwischen den einzelnen Kinounternehmen im Markt hat sich unterdessen nicht begradigt?

Christian Bräuer: Gerade im Arthouse-Markt ist eine erhebliche Bandbreite nichts Neues und auch der Struktur geschuldet. Bei wenigen Sälen kommt dem einzelnen Film sehr viel stärkeres Gewicht zu als im Center oder gar Multiplex, wo sich über die Vielzahl der Leinwände und Angebote der Trend nivelliert. Manche Filme passen besser in Großstädte, andere eher in Mittel- oder Kleinstädte. Die Festivalerfolge des letzten Jahres funktionierten besser in Großstädten. Auch der Letterboxd-Effekt wirkt sich derzeit noch zuvorderst in den urbanen Zentren aus. Ungeachtet dessen sehen wir, dass es dort besser läuft, wo investiert werden konnte, wo Kinos sich und ihre Teams weiter professionalisieren. Die Landkinos sind nicht abgekoppelt, nur ist Kino auch immer von der Bevölkerungsentwicklung abhängig. Wenn ein Ort immer mehr Einwohner verliert, kann man als Kino noch so kreativ sein – man wird einen gewissen Rückgang kaum stoppen. All das ist Chance und Auftrag zugleich: Wir können es uns im Sinne einer flächendeckenden Kinokultur nicht leisten, auch nur ein einziges Haus zu verlieren. Wir benötigen zusätzliche Standorte. Nicht nur der Markt könnte mehr Kinovielfalt gut vertragen, sondern auch die Gesellschaft. Wir haben es in der Hand, die Kinostandorte, die man dankenswerterweise durch die Pandemie gebracht hat, dauerhaft zu stärken – wenn entschlossen gehandelt wird.

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Der Verwaltungsrat der CICAE bei der Mitgliederversammlung in Cannes (Credit: AG Kino-Gilde)

Was können Kinos bzw. deren Verband tun, um sich und den Markt zu stärken – außer sich um Förderung zu bemühen?

Christian Bräuer: So sehr uns Förderthemen bewegen müssen, so sehr steht gerade die Filmkunstmesse der AG Kino-Gilde für engagierte Bemühungen, den Markt zu gestalten. Gerade jetzt sprechen wir von einer beeindruckenden Vielfalt an Verbandsinitiativen wie dem Qualitätsmanagement für Kinos, den Projekten für junges Publikum oder den Innovation Labs, in denen sehr stark über Innovation und Publikumsentwicklung gesprochen wird. Wir arbeiten gemeinsam mit den beiden anderen Kinoverbänden an der Entwicklung ökologischer Mindeststandards für Kinos. Wir stärken den internationalen Austausch und Professionalisierung: Zum zweiten Mal fand gerade in Berlin das Arthouse Cinema Training mit einer beeindruckenden Bandbreite von Teilnehmenden aus 29 Ländern und vier Kontinenten statt. Wir hatten eine Delegation aus Saudi-Arabien zu Gast, wo gerade ein großer Kinomarkt entsteht. Gleichzeitig planen wir wieder eine internationale Best-Practice-Konferenz in Form der CinemaVision. Wir sind sehr aktiv dabei, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, denn das ist aus unserer Sicht elementar. Gleichzeitig arbeiten wir an der Außenwahrnehmung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass traditionelle Medien weiterhin von großer Bedeutung bleiben, sich die Kanäle aber immer weiter ausdifferenzieren: Wir haben in diesem Jahr erstmals eine Partnerschaft mit Letterboxd geknüpft, die den Gildepreis international mit einer Marketingkampagne unterstützen wird. Das ist eine ursprünglich in Neuseeland gegründete soziale Plattform, die sich ganz gezielt an eine Community aus Filmliebhabern wendet. Auf diese Kooperation freue ich mich sehr, denn sie erweitert Sichtbarkeit und Reichweite dieser renommierten Preise und verleiht ihnen dadurch zusätzlichen Wert. Unter dem Strich lässt sich sagen, dass wir momentan einiges an Rückenwind verspüren. Und wenn nun noch die Förderreform in die richtige Richtung steuert, können wir optimistisch nach vorne blicken. Das ist nicht nur für den Markt entscheidend, sondern auch für die Gesellschaft. Denn Kinos stehen für Demokratie und Vielfalt, sie zeigen mit ihren Programmen Haltung. Kulturorte, an denen Menschen aus unterschiedlichsten Gruppen zusammenkommen, an denen sie ihre Blasen verlassen, sind wichtiger denn je – und das definiert auch unseren Auftrag.

Das Gespräch führte Marc Mensch