Eindringliches Drama über zwei befreundete Militärärzte, die am Ende der Ersten Weltkriegs mit versehrten Soldaten und der Spanischen Grippe konfrontiert werden.
FAST FACTS:
• Gianni Amelio mit seinem achten Film im Wettbewerb von Venedig
• Erster Film des Goldener-Löwe-Gewinners seit „Il singore delle formiche“ von 2022
• Beeindruckender Einblick in die letzten Tage des Ersten Weltkriegs hinter der Front
CREDITS:
Land / Jahr: Italien 2024; Laufzeit: 103 Minuten; Regie: Gianni Amelio; Drehbuch: Gianni Amelio, Alberto Taraglio; Besetzung: Alessandro Borghi, Gabriel Montesi, Federica Rosellini, Giovanni Scotti, Vince Vivenzio, Alberto Cracco, Luca Lazzareschi, Maria Grazia Plos, Rita Bosello
REVIEW:
Womöglich sieht Gianni Amelio die Mostra in Venedig als so etwas an wie sein zweites Wohnzimmer. Sein „Campo Di Battaglia“ ist seit 1982 sein achter Beitrag für den Wettbewerb in Venedig; 1998 gewann er den Goldenen Löwen für „So haben wir gelacht“, 1994 war er bester Regisseur für „Lamerica“. Jetzt ist der 79-jährige Regieveteran zwei Jahre nach „Il signore delle formiche“ zurück auf dem Lido, wieder mit einer Geschichte aus dem 20. Jahrhundert, geht aber noch weiter zurück in der Zeit, in die letzten Monate des Ersten Weltkriegs. „Schlachtfeld“ heißt der Titel übersetzt, aber „Campo di Battaglia“ ist kein „Im Westen nichts Neues“, kein Schlachtengemälde. Nicht einen Schuss hört man, keinen einzigen Kampf sieht man. Amelios Schlachtfeld ist die Zeit danach, der Umgang den Verletzungen und Versehrungen.
Eindrucksvoll ist der nächtliche Beginn des Films: Ein Soldat durchsucht nach einer Schlacht in einem gewaltigen Leichenhaufen einen toten Kameraden nach dem anderen, nimmt Wertstücke und Brieftaschen an sich, isst Brotreste, die er in den Taschen findet. Bis auf einmal eine Hand aus dem Haufen herausragt, nach ihm greift. Ein Überlebender. Als nächstes sieht man ihn auf einem Transport, dann im Militärkrankenhaus. Zwei von Kindesbeinen an miteinander befreundete, aber vom Typ her grundverschiedene Ärzte sollen die Verletzten hier pflegen und schnellstmöglich wieder zurück in die Schlacht zu schicken. Der Krieg sei eine Pflicht, sagt der eine, der konservative Stefano. Der weltoffenere, der Wissenschaft zugewandte Giulio sieht das anders. Während Stefano kein Verständnis mitbringt für die Männer, die sich ihre Wunden offenkundig selbst zugefügt haben, und sie schnellstmöglich wieder an die Front sendet, setzt sich Giulio über die Anordnungen hinweg, bietet den darbenden Männern an, ihnen noch weitere Versehrungen zuzufügen, mit denen man garantiert die Heimreise antreten kann: Bauern, so sagt er, sind genauso wichtig wie Soldaten.
Der Konflikt zwischen den beiden Männern ist der Motor der Geschichte, die zu Beginn deutliche Züge zu Pat Barkers erstem Roman ihrer „Regeneration“-Trilogie, „Niemandsland“ von 1991 trägt. Aber tatsächlich interessiert Gianni Amelio etwas anderes in seinem sorgfältig konstruierten und in ruhigen, stimmigen Tableaux umgesetzten Film, unverkennbar das Werk eines erfahrenen Mannes, der es nicht eilig hat, seinen Punkt zu machen, es dann aber doch unmissverständlich und effektiv macht. Etwa zur Hälfte des Films hält die Spanische Grippe Einzug, eröffnet ein neues Schlachtfeld, ein ziviles Schlachtfeld, direkt neben den im Krieg verletzten Soldaten stapeln sich jetzt die Menschen und siechen dahin. 15 Millionen Menschenleben forderte der Erste Weltkrieg, wird man nach dem Film erfahren, 50 Millionen Menschen starben an der Spanischen Grippe. Unverkennbar der Bezug zur Gegenwart: Mit einem Schlag wird „Campo di Battaglia“ zu einem Gedankenspiel über Corona, evoziert die Bilder der frühen Tage der Pandemie, als in Bergamo die Leichen auf der Straße gestapelt werden mussten.
So entsteht ein Film, der einem kalte Schauer den Rücken herunterlaufen lässt: Weil schließlich die Spanische Grippe auch das Schicksal der beiden Freunde im Mittelpunkt der Handlung und der attraktiven Frau, die zwischen ihnen steht, bestimmen wird, das verzweifelte Rennen, ein Gegenmittel zu finden, und das unweigerliche Scheitern. Die einen sterben, für die anderen geht das Leben weiter. Der Krieg ist vorbei, für die anderen hat das Leiden erst begonnen.
Thomas Schultze