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Guy Nattiv zu „Tatami“: „Wie ein Kampf zwischen Skorpionen“

Nachdem er gerade erst mit „Golda – Israels Eiserne Lady“ in den deutschen Kinos war, legt Guy Nattiv mit „Tatami“ bereits seinen nächsten politischen Film vor, diesmal zusammen gedreht mit der iranischen Schauspielerin Zar Amir als Ko-Regisseurin. Morgen ist Kinostart, Verleih ist Wild Bunch – wir haben uns mit dem israelischen Filmemacher unterhalten.

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Guy Nattiv, Regisseur von „Tatami“ (Credit: Imago / Abacapress)

Sie haben „Tatami“ als alleinige Regiearbeit gestartet, entschieden sich dann aber dafür, Zar Amir als Ko-Regisseurin mit an Bord zu holen. Wie kam es dazu?

Guy Nattiv: Es fühlte sich für mich einfach nicht richtig an, diese Geschichte alleine zu erzählen. Ich bin nicht persischer Herkunft, ich bin keine Frau, ich komme nicht aus Iran. Es war mir als israelischer Mann wichtig, diesen Film zu machen. Aber ich wollte es richtig machen, mit jemandem an meiner Seite, der mehr über die Welt wusste, die im Mittelpunkt von „Tatami“ steht. Gleichzeitig fand ich es auch künstlerisch spannend, mich zu öffnen, meinen Fokus zu erweitern, mich in die Hände einer iranischen Frau zu begeben und ihr zuzuhören. Zar an meiner Seite gehabt zu haben, war wie ein Upgrade. Ein Upgrade von mir, ein Upgrade des Films.

Wie sah dieses „Upgrade“ aus?

Guy Nattiv: Sie nahm sich das Drehbuch vor und machte es besser. Sie inszenierte die iranischen Darsteller:innen. Und sie hatte den Film auch besetzt. So kamen wir überhaupt erst ins Gespräch. Es ist einer der großen glücklichen Umstände meines Lebens, dass ich sie getroffen habe. 

Die Idee kommt jedoch von Ihnen – eine ungewöhnliche Idee für einen israelischen Filmemacher. 

Guy Nattiv: 2019 kam es bei den Judo-Weltmeisterachaften in Tokio zu einem berühmt-berüchtigten Vorfall. Der Israeli Sagi Muki und der Iraner Saeid Mollaei waren hinter den Kulissen beste Freunde. Sie sind zusammen Falafelessen gegangen, schickten sich gegenseitig SMS. Auf der Matte waren sie natürlich Kontrahenten. Als sie gegeneinander hätten kämpfen müssen, wollte der iranische Verband den Kampf verhindern, weil man nicht wollte, dass ein iranischer Sportler gegen einen Israeli antritt. Saeid weigerte sich zunächst, bis man die Daumenschrauben ansetzte und ihm drohte, man werde seiner Familie daheim das Leben schwermachen. Als ich davon hörte, dachte ich mir: „Holy shit, das ist eine Geschichte, die die Welt erfahren muss.“ 

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Guy Nattiv, seine Ko-Regisseurin Zar Amir und Darsteller Ash Goldeh (Credit: Imago / Starface)

Das war aber erst der Anfang, richtig?

Guy Nattiv: Nach den landesweiten Protesten aufgrund der Ermordung der kurdischstämmigen Iranerin Jina Mahsa Amini im September 2022 begannen mehr und mehr iranische Sportlerinnen, ihre Stimme gegen das Regime zu erheben. Zar und ich waren sofort einer Meinung, diesen Entwicklungen mit unserem gemeinsamen Film Rechnung zu tragen. Wir änderten also den Fokus und richteten unseren Blick auf weibliche Judoka. Es war eine wichtige und richtige Entscheidung. Als wir mit dem Dreh begannen, waren die „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste zwar noch in vollem Gange, es stand aber bereits fest, dass es dem Regime noch einmal gelungen war, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Ich liege richtig mit der Annahme, dass Judo in Israel und Iran ein sehr populärer Sport ist?

Guy Nattiv: Sehr populär. Israelis und Iraner:innen gehören zur Weltspitze, gewinnen regelmäßig Goldmedaillen. Kids in Israel stehen vor der Wahl: Basketball, Fußball oder Judo. Ich hatte mich damals für Judo entschieden, kenne mich also durchaus aus. Mir gefällt, dass es zwar ein Kräftemessen ist, man den Widersacher aber zumindest in der japanischen Tradition anders als beim Boxen nicht mit Hass entgegentritt. Man respektiert den Gegner, man verbeugt sich voreinander. Das war auch wichtig für den Film. Ebenso war Judo natürlich aber auch wichtig, weil der Sport beiden Ländern so viel bedeutet – eine perfekte Grundlage für den Film, der mir vorschwebte. Wir haben in Tiflis gedreht, der Hauptstadt Georgiens, wo Judo ebenfalls eine wichtige Rolle spielt – das Land ist wie ein Bindeglied zwischen Israel und Iran, es herrscht ein fragiler Burgfrieden. 

Aber lassen Sie uns nicht nur über die politische Komponente sprechen. „Tatami“ ist auch einfach ein starker Film, dessen beeindruckende Kampfszenen offenkundig von „Raging Bull“ inspiriert, aber auf ganz eigene Weise interpretiert sind…

Guy Nattiv: Stimmt, „Raging Bull“ ist wichtig, ebenso „La haine“. Judo ist wie ein Tanz. Unser Choreograph der Kampfszenen war der Weltmeister aus Georgien, und genau das habe ich ihm mitgegeben: Lass es wie einen Tanz aussehen, ein Geben und Nehmen. Wenn man von oben draufblickt, dann ist es ein bisschen, als würde man Skorpionen beim Kämpfen zusehen. Es fügte sich einfach alles sehr gut zusammen. Das Schwarzweiß wirkt natürlich auch sehr gut bei weißen und schwarzen Kimonos. Wir konnten natürlich nur hoffen, dass die Bilder so eindringlich und schön geraten würden. Aber wir sind überglücklich mit dem Ergebnis. Ein Fun Fact: Die Moderatoren, die man hört, sind die tatsächlichen Topmoderatoren von EuroSport. Wir haben ihnen den Film vorgeführt, und sie haben die Kämpfe live kommentiert, während sie den Film betrachteten. 

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Christoph Liedke (Wild Bunch), Moderatorin Shahrzad Eden Osterer, Regisseur Guy Nattiv, Komponistin Dascha Dauenhauer und Bernhard Karl (Filmfest München) bei der Premiere von „Tatami” (v.l.) (Credit: Filmfest MüncheN) © Sophie Mahler / Filmfest München

Wie war der Dreh in Tiflis?

Guy Nattiv: Tolle Erfahrung. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass große Teile des Landes und eben auch der Hauptstadt mit einem Bein noch fest in den Fünfzigerjahren stecken. Wir konnten in einem riesigen Stadion drehen, das seinerzeit die Russen errichtet hatten und eine entsprechend beklemmende Atmosphäre ausstrahlte. Man hatte ständig das Gefühl, man würde ausspioniert oder abgehört werden. Das hat sehr geholfen beim Dreh. Und außerdem gibt es Ecken, die absolut überzeugend wie Teheran aussehen. Das kam uns ebenfalls entgegen. 

Hatten Sie jemals den Eindruck, der Dreh könnte gefährlich sein. 

Guy Nattiv: Tiflis ist eine Drehscheibe, gleich nah an Teheran und Tel Aviv, jeweils zwei Stunden entfernt. Es ist in bevorzugtes Urlaubsziel von Israelis, ebenso aber auch von Iraner:innen. Zwei Wochen vor Drehstart erhielt ich einen Anruf des Mossad und man informierte mich, man habe gerade eine iranische Todesschwadron ausgeschaltet, die in Tiflis einen israelischen Geschäftsmann hatte töten sollen. Wir mussten also den kompletten Dreh so weit wie möglich unter dem Radar durchführen. Wir verwendeten falsche Namen. Wir sprachen weder Hebräisch noch Farsi, sondern nur Englisch. Es gab keine Ankündigungen, dass wir drehen. Es gab besondere Sicherheitsvorkehrungen, um an den Drehort zu gelangen. Es war etwas heikel.

Gab es bereits Reaktionen von iranischer Seite auf Ihren Film?

Guy Nattiv: Man hat ihn dort noch nicht gesehen. Aber wir wissen, was auf uns zukommt. Man darf sich einfach nicht abschrecken lassen. Wie sagt man so schön: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wir müssen einfach immer weitermachen und ihre Unmenschlichkeit vorführen. Ich kann nicht abschätzen, ob eine neue Protestwelle bereits zum Zusammenbruch des Regimes führen wird. Ende 2022 war es schon fast so weit. Einstweilen müssen wir weiter Filme machen wie „Tatami“ – oder „The Seed of the Sacred Fig“. Sie sind wichtig. Wir müssen den Druck aufrechterhalten, by any means necessary.

Das Gespräch führte Thomas Schultze.