Sabine Schultz, seit 2023 Künstlerische Leiterin der Heimat Europa Filmfestspiele (9. – 24. August), die unter der Schirmherrschaft von Edgar Reitz stehen, über das diesjährige Programm mit vielen Filmen von Frauen, den USP des Festivals und das Anliegen, junge Nachwuchstalente zu fördern.
Das diesjährige Programm umfasst über 40 aktuelle Spiel- und Dokumentarfilme. Um was wird es in Ihrer Ausgabe 2024 gehen?
Sabine Schultz: Angelehnt an den Kultursommer Rheinland-Pfalz zeigt die Kompassnadel der Heimat Europa Filmfestspiele dieses Jahr nach Südeuropa, auf Filmländer wie Italien, Spanien, Portugal oder die Türkei. Wobei vor allem die Kult-Klassiker in der Classic-Sektion wie auch die Open-Air live Konzerte auf dem Fruchtmarkt ein mediterranes Flair vermitteln. Während die aktuellen Spiel- und Dokumentarfilme häufig von Heimat-Verlust und Flucht erzählen. Das große Thema unserer Zeit, das sich wie ein roter Faden durch alle Sektionen zieht und einen Schwerpunkt bildet und das wir auch in einem Podiumsgespräch am 22 August aufgreifen.
Gibt es noch eine Besonderheit?
Sabine Schultz: Von den 13 Filmen im Wettbewerb wurden neun von Frauen gedreht und vier von Männern. Ein Verhältnis, das man eher umgekehrt kennt. In der Regel sind Regiearbeiten von Frauen noch immer in der Minderheit, obwohl inzwischen mehr Frauen ihr Regiestudium an den Hochschulen abschließen als Männer. Doch die Filmbranche wird noch immer von einem männlichen Blick dominiert, was sich auch in überholten Rollenklischees vieler Spiel- und Fernsehfilme spiegelt. Das ist auch Thema unseres Filmtalks:Filmfrauen am 10. August mit der Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin Anke Sevenich und weiteren Filmfrauen des SI STAR Filmpreises für herausragende Regisseurinnen. Wir freuen uns also auf ein Festival der starken und mutigen Frauen vor – und hinter der Kamera.
Und über die EDGAR-Vergabe entscheidet ebenfalls eine Frau…
Sabine Schultz: Nicolette Krebitz ist unsere Preispatin, die als alleinige Jurorin über die Vergabe des Hauptpreises, den EDGAR entscheidet. Es war ein Wunsch unseres Schirmherrn Edgar Reitz, dass keine mehrköpfige Jury nach langen Diskussionen über den oder die Preisträger/in entscheidet, sondern nur eine Person mit einer klaren Meinung und Haltung. Und da ist Nicolette Krebitz ein Glücksfall für unser Festival. Eine aufregende Cineastin, die gerne etwas wagt und neue Wege geht. Wie in ihrer zweiten Regiearbeit „Wild“, die wir im Rahmen einer Hommage zeigen werden. Zusammen mit ihrem frühen Publikumserfolg als Schauspielerin und Musikerin „Bandits“ und ihrem jüngsten Film als Regisseurin „AEIOU-Das schnelle Alphabet der Liebe“ mit Sophie Rois – womit wir wieder bei den starken Frauen wären….
Was sind die Höhepunkte, was darf man nicht verpassen?
Sabine Schultz: Gefährliche Frage! Wo soll ich anfangen und wo aufhören? Natürlich bringt jeder Zuschauer seine eigenen Lebenserfahrungen und Vorlieben mit ins Kino, da will ich nicht vorgreifen. Aber der neue Dokumentarfilm von Edgar Reitz und Jörg Adolph, „Filmstunde_23“, ist ein ebenso charmantes wie kraftvolles Plädoyer für die Filmkunst als Lebenselixier und die Filmbildung an sich, das ich nur jedem ans Herz legen kann. Unsere Kult-Klassiker sind für mich oft mit persönlichen Erinnerungen verbunden, da bin ich wahrscheinlich befangen… Zu „Volver“, dieser hinreißenden Ode an die Frauen, hatte ich zur Premiere in Cannes 2006 ein sehr schönes Interview mit Penélope Cruz und mit Pedro Almodovar geführt, in dem er erzählt, wie viel dieser Film mit seiner Heimat La Mancha zu tun hat. Der Titel „Volver“, also Heimkehren, kommt nicht von ungefähr. Auch zu „Lisbon Story“ konnte ich vor 30 Jahren Wim Wenders interviewen. Und jetzt wieder – exklusiv für die Heimat Europa Filmfestspiele. Wir zeigen dieses Gespräch über seine (Liebes-) Beziehung zu Lissabon vor dem Film am 15. August. Selbst wer „Lisbon Story“ schon kennen sollte, kann den Film nach den Anekdoten und dem Blick hinter die Kulissen von Wim Wenders nochmal ganz neu entdecken.
Was sticht noch hervor?
Sabine Schultz: Wir haben auch starke Debütfilme im Wettbewerb. „Ellbogen“ von Aslı Özarslan zum Beispiel ist konsequent aus der Perspektive einer jungen Migrantin der zweiten Generation erzählt. Eine trotzige Protagonistin, die es satt hat, sich ständig gegen Vorurteile behaupten zu müssen. Großartig gespielt von der Neuentdeckung Melia Kara, die wir gespannt erwarten. „Echoes from Borderland“ folgt einer 15-jährigen Afghanin an die Europäische Außengrenze, wo sie bedrohliche Push Backs erlebt. Ein bewegender Dokumentarfilm mit gestalteten Elementen. „Jenseits der blauen Grenze“ handelt von einer riskanten Flucht aus der DDR und wir freuen uns auf den Besuch von Hauptdarstellerin Lena Urzendowsky, die Unglaubliches leistet in dieser Rolle. Auch der Spanier Javier Macipe wird sein Langfilmdebüt, „La Estrella Azul“, persönlich vorstellen. Ein Film, der die Grenzen zwischen Spielfilm, Biopic und Musikfilm sprengt. „Gloria!“ ist das beschwingte Regiedebüt der italienischen Pop-Sängern Margherita Vicario – eine nicht nur musikalische Emanzipationsgeschichte. Sylvie Michel zeigt ihren zweiten Langfilm „More than Strangers“, eine Allegorie auf Europa. Daneben finden sich auch etablierte Filmemacher*innen, wie Andreas Dresen mit seinem neuen Film, dem Widerstandsdrama „In Liebe, Eure Hilde“ oder Isabel Coixets Literaturverfilmung „Un Amor“. Julia von Heinz kommt mit ihrem warmherzigen Vater-Tochter-Road-Movie „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ nach Simmern und Asli Özge mit einem aufregenden, hybriden Spiel -und Dokumentarfilm über ihren 90-jährigen Vater, „Faruk“, der seine Wohnung in Istanbul räumen muss. Keinen dieser Filme würde ich verpassen wollen…
Wer ist das Publikum für Ihr Festival?
Sabine Schultz: Es ist eher ein regionales Publikum aus dem Hunsrück. Ein wunderbares, Kino-affines Publikum, das ganz großartig mitgeht. Aber wir konnten bereits mehr und mehr Zuschauer aus dem Rhein-Main-Gebiet dazu gewinnen und ich hoffe, dass wir den Radius und die Strahlkraft der Filmfestspiele noch erweitern können.
Welche Hürden gab es bei der Organisation zu überwinden?
Sabine Schultz: Was für das Publikum ein Anreiz ist: das Kino-Festival im August mit Open-Air-Vorführungen in sommerlicher Atmosphäre, ist gleichzeitig die größte Hürde beim Einladen von Filmgästen, Darsteller*innen und Regisseur*innen. Viele sind gerade im August mit Dreharbeiten beschäftigt oder sie sind in Ferien… Das macht die Ansprache der Gäste sehr schwierig.
Welchen Stellenwert genießt Ihr Festival in Ihrer Stadt?
Sabine Schultz: Letztes Jahr konnten wir einen Besucherrekord verzeichnen. Zu jeder Vorstellung im Pro-Winzkino mussten wir einen zweiten Saal öffnen, weil der Andrang so groß war. Täglich haben mich Zuschauer angesprochen und sich für „das gute Programm“ bedankt. Das sind natürlich Glücksmomente für eine künstlerische Leiterin… Und: der Stellenwert des Festivals wächst stetig. Dafür spricht alleine die Tatsache, dass die Stadt Simmern ihren jährlichen Zuschuss für die nächsten fünf Jahre, also bis ins Jahr 2029, auf jeweils 60.000 Euro erhöht hat. Und auch das Land Rheinland-Pfalz hat seine Förderung auf aktuell 44.000 Euro hochgefahren.
Sie sind seit 2023 als künstlerische Leiterin dabei. Was hebt das Heimat Europa Filmfestival von anderen Festivals ab?
Sabine Schultz: Zunächst, dass das Heimat-Thema sich in allen denkbaren Spielarten durch alle Filme und Sektionen zieht. Sei es als Sehnsucht nach etwas Verlorenem oder nach einem sicheren oder besseren Leben, sei es die Suche nach Geborgenheit oder nach Identität. Ob in Spielfilmen, fiktionalen Erzählungen oder in Dokumentarfilmen oder – immer häufiger – in Filmen, die beides raffiniert miteinander verbinden; sei es humorvoll oder nachdenklich, tiefgründig und bewegend – es geht um den Begriff Heimat mit all seinen Widersprüchen. Außerdem sieht das Gesamtkonzept der Heimat Europa Filmfestspiele mit vielen Open-Air-Vorführungen und Veranstaltungen vor der Kulisse des historischen Fruchtmarktes in Simmern auch immer ein thematisch abgestimmtes Rahmenprogramm vor, wie Live-Konzerte, Lesungen, Podiumsdiskussionen und es gibt einen herrlichen Retro-Clubraum des Pro-Winzkinos als Treffpunkt nach den Filmen und für Begegnungen mit den Filmemachern. Ganz nach Edgar Reitz‘ Maxime: „Kino muss ein Ereignis sein, ein Erlebnis mit Live-Auftritten, geeigneter Gastronomie, Gesprächen und Begegnungen“.
Es steht in der Tradition des Filmemachers Edgar Reitz. Was verbinden Sie persönlich mit dessen Schaffen?
Sabine Schultz: Ich erinnere mich, dass meine Generation in den 80er, 90er Jahren geradezu allergisch auf das Wort „Heimat“ reagiert hat. Da klebte so ein brauner, nationalsozialistischer Schimmer dran, damit wollten wir nichts zu tun haben. Dann kam Edgar Reitz mit seiner Heimat-Saga. Ausgerechnet so ein kritischer Geist, der für Erneuerung stand und im Oberhausener Manifest zusammen mit Alexander Kluge „Papas Kino“ für tot erklärt hatte, da hörte und sah man hin. Und in der Tat gelang ihm eine ganz andere Annäherung an die deutsche Vergangenheit und die Provinz. Unverschnörkelt, realistisch und doch poetisch. Er hat dem Begriff „Heimat“ eine andere Farbe und Bedeutung gegeben. Und ich weiß, dass es Edgar Reitz sehr schmerzt, dass der Heimat-Begriff jetzt wieder von der neuen Rechten missbraucht wird. Wir halten dagegen!
Sie blicken auf eine lange Karriere als Fernsehjournalistin und Filmkritikerin. Mit Ihrem Background: Hat man bei der Kuratierung und Filmauswahl eines Festivals eine andere Brille auf? Was ist Ihnen wichtig?
Sabine Schultz: Damals wie heute steht die Kino-Leidenschaft im Vordergrund! Das Eintauchen in andere Welten, berührende Geschichten, neue Horizonte. Und damals wie heute hoffe ich, dass der Funke überspringt und ich das Publikum mit meiner Begeisterung anstecken und ins Kino locken kann. Bei der Filmauswahl für die Heimat Europa Filmfestspiele ist mein Fokus ein klein wenig anders im Hinblick auf den Heimat-Begriff und die Länder der jeweiligen Kompass Europa-Ausrichtung. Besonders wichtig ist mir dabei die Ermutigung und Förderung junger Nachwuchstalente. Fast die Hälfte der 13 Wettbewerbsfilme sind spannende Debütfilme. Darum bin ich sehr froh über den neuen Nachwuchspreis, der letztes Jahr von unserem Juror Burghart Klaußner gestiftet und dieses Jahr erstmal (und dauerhaft!) von der Rheinland-Pfälzischen Kulturministerin Katharina Binz übernommen wird.
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Sabine Schultz: Ich freue mich vor allem auf schöne Begegnungen, erkenntnisreiche Filmgespräche mit den Gästen aus Cast und Regie und – auf das wunderbare Kino-Publikum im Hunsrück !
Die Fragen stellte Barbara Schuster