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REVIEW FESTIVAL: „Ein Mann seiner Klasse“

Einer der stärksten TV-Filme der diesjährigen Sektion Neues Deutsches Fernsehen ist „Ein Mann seiner Klasse“. Eine wuchtige Melodrama-Adaption von Christian Barons gleichnamigen Buch mit über sich hinauswachsenden Schauspielern wie Leonard Kunz oder Svenja Jung.

Camille Loup Moltzen (l.) und Leonard Kunz
Vater und Sohn: Camille Loup Moltzen (l.) und Leonard Kunz (Credit: SWR/Saxonia Media/Daniel Dornhöfer)

CREDITS:

Produktion: Saxonia Media Filmproduktionsgesellschaft mbH, Bayerischer Rundfunk; Produzentinnen: Daniela Zentner, Kerstin Lipownik, Catharina Rittmann (Producer); Regie: Marc Brummund; Buch: Nicole Armbruster, Marc Brummund; Redaktion: Monika Denisch (SWR), Patricius Mayer (BR); Cast: Camille Loup Moltzen, Leonard Kunz, Svenja Jung, Mercedes Müller; Weltpremiere: Filmfest München 2.7.24; Start: In der ARD vrsl. Herbst 2024

REVIEW:

Einer der stärksten TV-Filme der diesjährigen Konkurrenz in der Sektion Neues Deutsches Fernsehen des Filmfests München ist ein als Coming-of-Age-Film getarntes, ziemlich meisterhaftes, atmosphärisch superdichtes Melodrama. Nach der autobiografischen Romanvorlage von Christian Baron erzählen Regisseur Marc Brummond und Drehbuchautorin Nicole Armbruster vom zehnjährigen Pfälzer Bub Christian (Camille Loup Moltzen), seinen komplizierten Familienverhältnissen und Klassenkämpfen.

Die erste Sequenz fasst das familiäre Drama gut zusammen: Der kleine Christian ist auf dem Weg zur Schule, wird aber von einem Mann gekidnappt, der sich umgehend als dessen Vater (monströs gut: Leonard Kunz) herausstellt. Der Vater packt den Kleinen ins Auto zu den anderen beiden Geschwistern und der angeschlagenen Mutter (Mercedes Müller). Auf dem Weg in den örtlichen Freizeitpark, der als Überraschung für die Kinder gedacht ist, rastet der Vater aber körperlich fast aus, als ein anderer Autofahrer die Raucher-Situation im Familienauto kritisiert.

Schnell ist zu erkennen, dass der hart malochende Vater mit der kurzen Zündschnur, der regelmäßig Frau und Kinder verprügelt, pures Gift für die Familie ist. Aber wie der Film dieses Arbeitermilieu schildert, hat nichts von verachtenswerten Poorsploitation, sondern bietet die Perspektive eines liebenden Kindes aus der Innenansicht, das sich trotz der vielen schrecklichen Taten nicht von seinem Vater abwenden kann. Ähnlich wie Sean Bakers „The Florida Project“ zeigt „Ein Mann seiner Klasse“ immer wieder helle und schöne Familienmomente, ohne die Gesamtsituation zu verklären. Dabei hilft, wie genau bei den Details der heruntergekommenen Wohnung, dem Dialekt oder dem authentischen Zeitkolorit der 1990er-Jahre gearbeitet wurde.

Svenja Jung
Eine ihrer bislang besten Rollen: Svenja Jung (Credit: SWR/Saxonia Media/Daniel Dornhöfer)

Als Mutter überzeugt auch Mercedes Müller, obwohl ihr zeitweise der Dialekt abhandenkommt. Aber gerade Leonard Kunz als schrecklicher Vater und Svenja Jung als unterstützende Schwester der Mutter verströmen so viel pfälzische Provinz aus, die auf diese Weise in den Dialogen teils poetische Kraft oder radikale Härte ausstrahlen können, die das Hochdeutsche gar nicht hergibt. Leonard Kunz hätte für diese Vaterfigur auf jeden Fall Preise verdient, so sehr hasst man die Figur, so erschreckend findet man sie, so rund ist sie als Charakter auch in der Körpersprache gespielt, so sehr bleibt sie jedoch als Mensch auch nur die Summe seiner verfehlten Teile. Denn Klassenfragen spielen eine große Rolle in dieser Familiengeschichte.

Für den kleinen Protagonisten Christian ist das Ganze auch eine Bildungsreise: Raus aus dem ewigen Kreislauf der auch geistig vererbten Hauptschule, hin zum Gymnasium. Die lyrische Begabung durch die Mutter, deren Gedichtband er immer bei sich trägt oder die Tante (Katharina Heyer), die es aus der Arbeiterschicht herausschaffte, in dem sie sich rausheiratete. Die Tante, die ihn im mondänen Caprio auch abholt und mit in die Oper oder das Theater nimmt. Die Armut, der Hunger und die Ungewissheit, was am nächsten Tag auf dem Küchentisch stehen soll, sind hier als Familienerfahrung fast wie eine Krankheit sehr gut eingefangen. Man könnte sogar so weit gehen und die Armut mitverantwortlich für den Alkoholismus des Vaters machen.

„Ein Mann seiner Klasse“ von der Saxonia Media hat in seiner schonungslosen Schilderung dieser Familie eine selten erlebte Wucht im deutschen Fernsehen und durch die Bank weg fantastische Schauspielleistungen. Das ist auf jeden Fall ein Film, der bis zum Ende des Jahres tief in der Seele und den Eingeweiden hängen bleiben wird.

Michael Müller